Das Herz von Olympia war mal Stinky Stratford

Olympia soll die Lebensqualität in Stratford nachhaltig steigern. Foto: Locog
Olympia soll die Lebensqualität in Stratford nachhaltig steigern. Foto: Locog

«In dieser Betonwüste könnte man sich leicht verlaufen / ständig entstehen neue Häuser, wie aus dem Nichts / und wenn du einmal an einer Kreuzung falsch abbiegst / landest du in einer Gegend, in die sonst lieber niemand geht.»

So schildert Ben Drew, besser bekannt als Plan B., in seiner aktuellen Single Ill Manors seine Heimat. Schon auf seinem Debütalbum im Jahr 2006, Who Needs Actions When You’ve Got Words, hatte der Musiker mit einer Mischung aus Stolz und Wut die Geschichten von Gewalt, Drogen und Arbeitslosigkeit aus seinem Viertel erzählt. Die Rede ist von Stratford im Osten Londons, und die Texte von Plan B. lassen keinen Zweifel daran, dass es keine allzu angenehme Gegend ist.

Stratford gilt quasi traditionell als einer der Slums von London. Die Gegend im Herzen des East Ends war schon im Mittelalter arm und wurde vom Niedergang der britischen Industrie dann noch einmal besonders hart getroffen. Viele der Betriebe, die sich entlang des Flusses Lea angesiedelt hatten, mussten dicht machen, und weil sie meist mit unangenehmen Chemikalien zu tun hatten, hinterließen sie nichts als reichlich verseuchtes Erdreich und den Spitznamen „Stinky Stratford“. Der Stadtteil gehört zu Newham, dem zweitärmsten Bezirk in ganz England, der zugleich der jüngste ist und der mit dem höchsten Einwandereranteil.

Doch es gibt Hoffnung für Stratford: Olympia. Der Stadtteil ist die Zentrale von London 2012. Das Olympiastadion steht hier, das Velodrom, die Schwimmhalle, das Olympische Dorf. Ein großer Teil der 11,1 Milliarden Euro im Budget des Organisationskomitees wurde eingesetzt, um Stratford ansehnlich zu machen. Wenn ab morgen Millionen von Touristen zu den Wettkämpfen kommen, dann soll am Ende auch Stratford zu den Siegern gehören. Vom 29. August bis 9. September ist dann noch einmal Hochbetrieb angesagt, wenn die Paralympics über die Bühne gehen werden.

Danach sollen die Sportstätten der Allgemeinheit zur Verfügung stehen, der Olympiapark (die größte neugeschaffene Parkanlage in Europa seit mehr als 150 Jahren) soll für mehr Lebensqualität sorgen und die Quartiere im Olympischen Dorf werden als Eigentumswohnungen verkauft. Schon jetzt steigen die Immobilienpreise in der Gegend, Stratford zieht nach und nach wohlhabendere Einwohner an.

«Stratford ist deutlich attraktiver geworden. Früher gab es hier eigentlich nur ein paar historische Gebäude und den Markt», erzählt Janet Dooner, Inhaberin der Railway Tavern. Der Pub, benannt nach dem Bahnhof direkt gegenüber und pünktlich zum Beginn der Spiele um weitere Gästezimmer erweitert, ist selbst ein historisches Gebäude. In den Gesprächen am Tresen gab es in den vergangenen Monaten bei weitem nicht nur Begeisterung über die Ankunft der fünf großen Ringe in Stratford. «Natürlich haben die Bauarbeiten für einigen Ärger gesorgt. Einige Teile von Stratford sind jetzt gar nicht mehr wiederzuerkennen. Aber ich persönlich denke, dass all das letztlich gut ist», sagt Dooner. «Ich freue mich jedenfalls darauf, wenn ich während der Spiele Gäste aus der ganzen Welt begrüßen kann.»

Das treffendste Symbol für die Aufbruchstimmung ist der 115 Meter hohe ArcelorMittal Orbit (oder «die Wasserpfeife», wie die Einheimischen den Turm neben dem Olympiastadion nennen). Der Entwurf von Künstler Anish Kapoor sieht aus, als würde sich eine Achterbahn der Sonne entgegenstrecken. Nimmt man den Aufzug nach oben, dann bietet sich von zwei Aussichtsplattformen eine spektakuläre Sicht auf das Olympiagelände und die Londoner Skyline. «Wir wollen damit ein echtes Spektakel bieten, das man immer mit London verbinden wird – auch lange, nachdem die Spiele vorbei sind», sagte Londons Bürgermeister Boris Johnson zur Eröffnung.

Doch die Frage, wie nachhaltig die Investitionen sind, wird nicht nur in Stratford heiß diskutiert. Obwohl Milliarden in die Infrastruktur gesteckt wurden, mussten kleine Sozialeinrichtungen in Stratford schließen. Die Arbeitslosigkeit ist seit der Olympia-Bewerbung weiter gestiegen, sogar stärker als anderswo in London.

Zwiespältig wird in einer derart finanzschwachen Gegend deshalb auch die Sehenswürdigkeit gesehen, die quasi jeder Olympia-Tourist in den kommenden Wochen erleben wird: Das Westfield Stratford City ist der Eingang zum Olympiagelände – und das größte Einkaufszentrum Europas. Auf 175.000 Quadratmetern Verkaufsfläche gibt es zwischen viel Stahl und Glas mehr als 300 Läden von Adidas und Apple bis WH Smith und Zara, dazu Restaurants, Kino, Kasino und die größte McDonald’s-Filiale der Welt. Zudem ist das Westfield Stratford City womöglich der einzige Ort der Welt, an dem Konsumwahn gut für die Umwelt wird: Der High-Tech-Boden ist so gebaut, dass die Fußschritte der Kunden in Energie umgewandelt werden.

Wer in Stratford bloß einkaufen oder sich amüsieren will, ist dankbar für die neuen Angebote. Doch die mächtige, moderne Konkurrenz hat schon etliche alteingesessene Händler in den Ruin getrieben. Auch den Kneipen machen die neuen Entertainment-Möglichkeiten zu schaffen: Allein im vergangenen Jahr schlossen in London 200 Pubs. Auch Musiker Plan B. glaubt wohl nicht so recht daran, dass der Glanz der Spiele langfristig auf Stratford abstrahlen wird. In Ill Manors singt er nämlich: «Wir haben eine umweltfreundliche Regierung / sie achtet darauf, dass unser natürlicher Lebensraum erhalten bleibt / sie hat ein ganzes Olympisches Dorf dorthin gebaut, wo wir wohnen / ohne eine einzige Wohnung abzureißen.»

Diesen Artikel gibt es mit einer Fotostrecke zum neuen Stratford auch bei news.de.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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