Deichkind Neues vom Dauerzustand

Deichkind – „Neues Vom Dauerzustand“

Künstler*in Deichkind

Deichkind Neues vom Dauerzustand Review Kritik
Deichkinds achtes Album begann mit einer Neuorientierung.
Album Neues vom Dauerzustand
Label Sultan Günther Music
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung

Die Welt ist fertig. Arbeit nervt. Niveau Weshalb Warum. Bück dich hoch. Aufstand im Schlaraffenland. Keiner dieser Songtitel aus der 25-jährigen Karriere von Deichkind hat anno 2023 seine Gültigkeit verloren. Noch immer leben wir in einem Land voller spießiger Angsthasen, die sich ihrer Privilegien nicht bewusst sind. Noch immer leben wir in einer Welt, die von der angeblichen Krone der Schöpfung jeden Tag ein bisschen mehr in einen stinkenden Mülleimer verwandelt wird. Trotzdem hat sich seit Wer Sagt Denn Das? (2019), dem letzten Album von Kryptik Joe, Porky und La Perla, so viel verändert, dass sich Deichkind ein paar Grundsatzfragen gestellt haben.

Die Covid-19-Pandemie ließ es anfangs unsicher erscheinen, ob es jemals wieder so etwas wie Festivals und Arena-Tourneen geben würde. Wenn man weiß, wie wichtig das Live-Erlebnis samt Bühnenbild und Interaktion mit dem Publikum für dieses Trio ist, war damit automatisch auch die Frage verbunden, ob Deichkind überhaupt weiter existieren sollten. Zumal alle drei Künstler die Corona-Zeit auch genutzt haben, um sich in kreativen Feldern jenseits der Band zu betätigen.

Dass derzeit Krieg in Europa herrscht, weil Russland die Ukraine überfallen hat, dürfte die Frage aufwerfen, ob es zeitgemäß und anständig ist, eine Platte zu veröffentlichen, die (eben auch) für Party und Klamauk steht, für Hedonismus und Sprücheklopfen. Darf man sich über notorisch müde Ü-30-Pärchen, Outdoor-untaugliche Naturenthusiasten, Risikoverweigerer, die sich dann wundern, warum es keinen Nervenkitzel und keine unverhofften Freuden in ihrem Leben gibt, viel zu häufig eingesetzte Notlügen und leere Drohungen oder ZZ-Top-Fans lustig machen (all das geschieht auf Neues Vom Dauerzustand), wenn anderswo Menschen sterben, verletzt, vertrieben und vergewaltigt werden?

Nicht zuletzt steht zur Debatte, ob das Jammern auf hohem Niveau in Deutschland, über das Deichkind stets so gerne gewitzelt haben, überhaupt noch ein berechtigter Vorwurf ist in Zeiten, in denen Krieg, Pandemie, Inflation, globalisierte Profitgier, Lieferengpässe und die nötigen Reaktionen auf den drohenden Klimakollaps viele Menschen auch hierzulande zuletzt näher an eine prekäre Lebenssituation gebracht haben. Sollte so eine Band weiter den Finger in die Wunden der Wohlstandsgesellschaft legen, wenn dieser Wohlstand für viele gerade womöglich zerbröselt? Wollen Menschen, die gerade darum kämpfen, die nächste Miete oder die Gasrechnung bezahlen zu können, dabei auch noch über ihre eigene Doppelmoral und die Fehler der Vergangenheit belehrt werden? Und sollten die, die dafür verantwortlich sind, noch einmal durch den Kakao gezogen werden, während sie sich durch Lügen, Korruption und Größenwahn ohnehin permanent selbst lächerlich machen?

„Wir hatten das Gefühl, dass wir nicht eins zu eins so weitermachen können wie bisher“, sagt La Perla zum achten Studioalbum der Band, dessen Zielsetzung dann bei einem Aufenthalt im Elbsandsteingebirge im Herbst 2020 diskutiert wurde. „Unsere Gespräche drehten sich dann ziemlich schnell um die Frage, welche Inhalte wir mit diesem Album in die Gesellschaft tragen wollten.“

Die Antwort lautet: Deichkind sind weiterhin aufmüpfig, sie adressieren weiterhin die richtigen Probleme und sie nehmen sich selbst – wie schon in der Vergangenheit – niemals aus bei ihrer Kritik. Nicht zuletzt: Deichkind machen weiterhin Spaß. Die Vorab-Tracks In der Natur (mit Jodeln!), Geradeaus (mit einer recht komplexen, vor allem aber hypermodernen Produktion, die mit Dexter in Stuttgart entstanden ist) und das fiese Bass-Monster Auch im Bentley wird geweint (mit Clueso, der „wie ein Flummi im Studio war und uns alte weiße Männer schöpferisch hochgehievt hat“) waren in dieser Hinsicht eher Nebelkerzen als prototypisch. Wer zu Deichkind nicht nur grübeln und staunen will, sondern auch abgehen und eskalieren, wird auf Neues Vom Dauerzustand durchaus fündig. Es gibt etliche Stellen innerhalb dieser 14 Tracks, bei denen man bereits ahnt, dass sie bei der anstehenden Tour ein Riesen-Moment sein werden. Der Auftakt Delle Am Helm (mit dem Bekenntnis „I like it bumm bumm“) gehört dazu, ebenso Wutboy (über gesellschaftliche Spaltung und die Unfähigkeit, andere Meinungen zu akzeptieren) oder Mehr davon (mit Fettes Brot), das den schmalen Grat zwischen Genuss und Unersättlichkeit, Zufriedenheit und Gier besingt.

Die Musik ist erneut Rap (die Rolle von Roger Rekless ist dabei noch einmal prominenter geworden) mit einer erstaunlich großen Dosis Elektronik, irgendwo zwischen Dizzee Rascal, 2 Unlimited und The Acid. Die Zusammenarbeit mit anderen Acts an verschiedenen Orten in Deutschland war dabei ebenso inspirierend wie die Wiederentdeckung des eigenen Teamgeists, sagt Kryptik Joe: „So gut die Videokonferenzen während der Pandemie auch funktioniert haben – nun wieder mit den anderen persönlich in einem Raum zusammen zu kommen, war für uns alle sehr wichtig, weil uns dadurch noch mal klar geworden ist: Als Kollektiv zusammen mit Leuten, die einen inspirieren, solche Sachen zu machen, das ist genau der Grund, aus dem wir damals angetreten sind.“

Etwas aus der Reihe tanzen Lecko Mio, das mit ein paar Latin-Sounds die Invasion deutscher Arroganz rund ums Mittelmeer in jedem Sommer ins Visier nimmt, Kein Bock, das mysteriöse Sprachfetzen aus einem Telefonat mit Lounge-Klängen unterlegt („Das ist einfach so rausgerutscht, Zack, fertig“, so Kryptik Joe) und der Album-Schlusspunkt Wie Denn? mit seinem erstaunlich hellen und heiteren Sound, der Unsicherheit und Selbstzweifel ebenso thematisiert wie die Tatsache, dass eben ein Unterschied zwischen schlaumeiernden Tipps und tatsächlicher Umsetzung eines erfolgreichen und glücklichen Lebens besteht, aus welchen Gründen auch immer.

Auch in den anderen Tracks gilt: Jeder Beat klingt frisch, jeder Vers ist originell. Bei Bedarf kann dieses Trio noch (mindestens) so irre und ausgelassen sein wie in Zeiten von Remmidemmi oder Illegale Fans, zugleich lassen Deichkind hier immer wieder eine erstaunliche Fähigkeit zur Reflexion erkennen, mit viel Gespür für Zwischentöne, Widersprüche und Ambivalenz. Merkste Selber zeigt das besonders deutlich als Aufzählung von Dingen, die nicht nur unsinnig und lächerlich sind, sondern ein Schuss ins Knie der eigenen Moral. Dass dabei auch „deutscher HipHop“ und die Unmöglichkeit ewiger Jugend genannt wird und die Hamburger über ihre eigene Unfähigkeit für gute dritte Strophen witzeln, ist nicht nur charmant, sondern essentiell für die Wirkung dieses und all ihrer Tracks. Deichkind wissen genau, dass sie nicht von oben herab funktionieren und schon gar nicht als Oberlehrer taugen. „Natürlich sind auch wir unsicher und haben keine Ahnung, wie es weitergeht. Aber wir können die Welt letztlich nur durch unsere Brille beschreiben“, sagt Kryptik Joe dazu.

Der Song, der Neues Vom Dauerzustand vielleicht am besten auf den Punkt bringt, ist Kids in meinem Alter. Auch hier werden wieder diverse gesellschaftliche und private Fehlleistungen aneinandergereiht, vom „gefährlichen Halbgoogeln“ über die neue Spießigkeit junger Menschen bis hin zur These, dass sich Gen Z & Co. im „freien Fall dem Ende entgegen“ befinden. Es geht im Text vor allem um die seltsame Eigenschaft, sich über Oberflächlichkeiten wie Ernährung, Urlaubsziele und Inneneinrichtung (in jedem Fall aber: über Konsum) zu definieren. Dass Deichkind dabei sehr genau wissen, dass a) ein Teil dieser Verfehlungen ebenso wie ein Teil typischer Vorwürfe gegen Boomer auch auf sie selbst zutrifft, und sie sich mit diesem Track b) in die lange Reihe alter Männer einreihen, die Kritik an „den jungen Leuten heutzutage“ äußert, wird spätestens klar, als Kryptik Joe zwischendurch mehrmals unfreiwillig kichern muss. Es ist ein toller Moment, weil Deichkind hier das Prinzip der Subversion quasi gegen ihren eigenen Text zum Einsatz bringen – und weil sie zeigen, wie viel Spaß sie weiterhin am Experimentieren, Provozieren und durchaus auch am Herumblödeln haben.

Das Video zu Kids in meinem Alter wird mit jeder Sekunde spektakulärer.

Website von Deichkind.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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