Ich habe es geschafft, in diesem Jahr erst ein einziges Mal Last Christmas zu hören. Ich muss zugeben, dass dieser erstaunliche Wert damit zu tun hat, dass ich etliche Risikofaktoren eliminiert habe. Ich höre kein Radio. Die Geschenke, die ich an Heiligabend unters Volk bringen werde wie ein bartloser, mützenloser, seltsamerotehoseloser (aber immerhin Coca Cola trinkender) Santa, kommen komplett aus dem Internet. Und Weihnachtsfeiern gehe ich erst recht aus dem Weg.
Neben der allgemein tödlichen Penetranz von Last Christmas löst jeder Kontakt mit dem Lied aber noch eine weitere schmerzhafte Reaktion bei mir aus. Ich frage mich, warum der popmusiktätige Teil der Menschheit nicht in der Lage ist, mal ein paar neue Weihnachtslieder hinzubekommen, die den Advent ein bisschen abwechslungsreicher machen. In diesem Jahr ist die Rettung nahe. Kelly Clarkson, Erasure, Leona Lewis und Michael Schulte haben sich meines Problems angenommen und jeweils ein Weihnachtsalbum aufgenommen. Die gute Nachricht vorab: Nur auf einem davon ist Last Christmas enthalten. Hier die handliche Übersicht über die anderen wichtigen Faktoren, aufgeteilt in zwölf handliche Kategorien.
Erasure – Snow Globe |
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Was der Weihnachtsmann ihnen bisher beschert hat | 24 Top-40-Hits in Folge in den Jahren 1986 bis 2007 in England, insgesamt mehr als 25 Millionen verkaufter Alben. |
Spielzeit | 44:52 Minuten |
Weihnachtlichkeit (gemessen in der Anzahl der Nennungen des Wortes „Christmas“ auf diesem Album) | 15 |
Andere wichtige Weihnachtswörter | Yuletide, Santa |
Anteil der Eigenkompositionen | 38,46 Prozent |
Erstaunlichste Coverversion | Silent Night. Der Song ist ein gutes Beispiel dafür, wie es Erasure auf Snow Globe schaffen, selbst die naheliegendsten Klassiker noch in etwas Eigenes zu verwandeln. Ein bisschen Elektronik im Hintergrund sorgt für viel Spannung, die Atmosphäre steigert sich schleichend, als könne das Lied in jedem Moment explodieren und sich mit einem satten Beat in einen Chicago-House-Track verwandeln – was es dann glücklicherweise aber nicht tut. |
Bestes eigenes Lied | Loving Man. Der Track steht Klassikern wie Blue Savannah kaum nach, mit einem straighten Beat, einer verspielten Melodie und dem makellosen Gesang von Andy Bell. Der Weihnachtsbezug ist aber allenfalls vage, in Zeilen wie diesen: “I’m a boy, I’m a girl / who has everything / Don’t need no gold rings, no diamonds / they won’t keep me warm”. |
Klingen die Glöckchen auf dieser Platte? | Ein bisschen. |
Wie glaubwürdig wären sie als Weihnachtsmann? | Nicht sehr. Andy Bell fehlt eindeutig die tiefe Stimme und Vince Clarke hat nicht mal den Ansatz eines Rauschebartes. |
Weihnachtlich angemessene Menschenliebe (gemessen in der Anzahl der Wörter bei „Thank you“ im Booklet) | 73 |
Motivation zur Aufnahme einer Weihnachtsplatte | „Ehrlich gesagt war das die Idee unseres Managers“, hat mir Vince Clarke im Interview verraten. „Ich war davon am Anfang nicht sonderlich überzeugt. Es gibt so viele Weihnachtslieder, die man schon eine Million Mal gehört hat. Es ist sehr schwierig, sie noch einmal ganz neu klingen zu lassen, ihnen einen unverwechselbaren Charakter zu geben – aber genau das war unser Ziel. Ich denke, dass wir das hinbekommen haben. Aber Snow Globe wird sicher unser einziges Weihnachtsalbum bleiben.“ |
Kelly Clarkson – Wrapped In Red |
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Was der Weihnachtsmann ihr bisher beschert hat | Drei Grammy Awards, vier American Music Awards, drei MTV Video Music Awards und zwölf Billboard Music Awards, weltweit mehr als zwanzig Millionen Platten verkaufte Platten. |
Spielzeit | 51:51 Minuten |
Weihnachtlichkeit (gemessen in der Anzahl der Nennungen des Wortes „Christmas“ auf diesem Album) | 55 |
Andere wichtige Weihnachtswörter | Santa, Mistletoe |
Anteil der Eigenkompositionen | 31,25 Prozent |
Erstaunlichste Coverversion | White Christmas. Kelly Clarkson holt es in die Lounge und schafft es tatsächlich, dieses extrem verstaubte Ding innig und sexy klingen zu lassen. Das ist genau das Lied, das die einsamen Herzen hören wollen, die Heiligabend allein an der Hotelbar verbringen. |
Bestes eigenes Lied | Die Single Underneath The Tree könnte das Lied sein, zu dem Lily Allen um ihren Weihnachtsbaum tanzt (deren Kompagnon Greg Kurstin hat es auch mitgeschrieben). Natürlich gibt es Glocken und viele Klischees, trotzdem ist Underneath The Tree zackig und frisch. Und damit übrigens durchaus typisch für Wrapped In Red, das es wiederholt schafft, einfach gute Popsongs abzuliefern, die immer toll gesungen und mitunter sogar tanzbar sind. |
Klingen die Glöckchen auf dieser Platte? | Sie könnten in einem Disney-Film nicht schöner klingen. |
Wie glaubwürdig wäre sie als Weihnachtsmann? | Auf der Rückseite des Covers versucht sich Kelly Clarkson immerhin schon einmal an einer roten Kapuze. Trotzdem: keine Chance. |
Weihnachtlich angemessene Menschenliebe (gemessen in der Anzahl der Wörter bei „Thank you“ im Booklet) | 468 |
Motivation zur Aufnahme einer Weihnachtsplatte | „Ich bin extrem begeistert, mein erstes Weihnachtsalbum zu veröffentlichen. Ich liebe Weihnachtsmusik und es war ein Riesenspaß, die Songs zu schreiben und aufzunehmen. Ich kann es kaum erwarten, dass alle sie zu hören bekommen.“ |
Fazit: Es gibt Weihnachtslieder jenseits von Last Christmas, sogar richtig gute. Entscheidend für ein überzeugendes neues Weihnachtslied ist offensichtlich die Begeisterung, mit der man selbst dem Fest der Liebe begegnet. Wenn man nur schnell versucht, den Restruhm einer Castingshow noch halbwegs in klingende Münze zu verwandeln (Michael Schulte – auf dessen Album ist übrigens auch Last Christmas enthalten), ist man schon zum Scheitern verurteilt. Wenn man ein Comeback starten will und noch nicht genug Songs für ein komplett eigenes Album hat (Erasure), klappt das schon besser, auch wenn man dann bei ein paar Liedern die Idee von Weihnachten schon sehr großzügig interpretieren muss, um noch einen Bezug herzustellen. Wenn man im Prinzip für alles von Katy Perry zu Countryballaden zu Superbowl-Pathos zu haben ist und ein paar sehr talentierte Mitstreiter hat (Kelly Clarkson), dann kann man auch mit einem Weihnachtsalbum nichts falsch machen. Und wenn man verdammt toll singen kann, die nötige geschmackvolle Begleitung und eine Vorliebe für die Festive Season à la Motown hat (Leona Lewis), dann bekommt man eine richtig feine Weihnachtsplatte hin.