«Rock» ist das erste Wort dieser Dokumentation. Ein Mann sagt es, ruft es, schreit es. Immer wieder. Rock. Rock. Rock. Er ist das Sinnbild dessen, was man sich wohl unter einem Rockstar vorstellt: wirre Frisur, ein Anzug irgendwo zwischen Fell und Samt, darunter ein freier Oberkörper. Dann verändert sich sein Text, minimal. «Fuck, fuck, fuck», ruft er jetzt.
Die Eingangsszene ist sinnbildlich für Wild Thing, die zweiteilige Arte-Dokumentation, mit der Regisseur Jérôme de Missolz die Geschichte der Rockmusik erzählen will. Zum einen fängt die Lautmalerei aus «Rock» und «Fuck» auf denkbar knappe Art die Quintessenz dieser Musikrichtung ein: Im Rock geht es ums Aufbegehren gegen Unterdrückung, gesellschaftlich, aber auch sexuell. Es geht um die Feier der Individualität, die letztlich Identität stiftet.
Zum anderen macht schon dieser Beginn klar: Wild Thing ist ein ganz und gar persönlicher Blick auf die Geschichte des Rock. Der erste Teil befasst sich heute Abend mit der Zeit von den Rock-Pionieren wie Chuck Berry bis zum Ende der Hippie-Ära. Teil 2 blickt in einer Woche auf die Phase, in der es nicht mehr in erster Linie ums Erschaffen ging, sondern um Destruktion. In beiden Fällen geht es nicht um die berühmtesten Musiker des Genres, nicht um Hits und Erfolge. Jérôme de Missolz stellt stattdessen die schrägen und tragischen Figuren vor und betont deren Bedeutung und Einfluss. Er ist, wie er selbst sagt, «auf der Suche nach den letzten unbeirrbaren Helden».
Jérôme de Missolz orientiert sich stark an der eigenen Biographie (und Plattensammlung). Er wäre (wie die meisten Musikjournalisten) ganz offensichtlich selbst gerne Rockstar geworden und er erweist sich (wie alle beinharten Rockfans) gelegentlich als unerträglicher Snob. Sein Blick auf die Geschichte des Rock ist deshalb nicht exemplarisch, aber trotzdem aussagekräftig. Geschickt zeigt die Dokumentation die Wirkungsmacht dieser Musik, wichtige Erneuerer und unverkennbare Traditionsstränge.
Iggy Pop, Ex-Frontmann des Stooges und Gottvater des Punk, der hier hampelnd, philosophierend und beschwörend als eine Art Erzähler auftritt, beschreibt den Rock’N’Roll als das Mittel, den unsichtbaren Vorhang zu lüften «zwischen Dir und allem, was lebenswert ist in der Welt». Jérôme de Missolz selbst erklärt Satisfaction von den Rolling Stones zur «Hymne an die Frustration der Jugend» und Bob Dylans Like A Rolling Stone zu einem «elektronischen Manifest, einer musikalischen und gesellschaftlichen Grenzverletzung». Das sind durchaus wertvolle, tiefgründige und richtige Gedanken.
Wer die Doku allerdings als Einführung in die Rockmusik begreift oder gar so etwas wie ein Standardwerk des Genres erwartet, wird enttäuscht – und das liegt ausgerechnet an der Musik. Zwischen den Interviews gibt es immer wieder Performances der Künstler zu sehen, zum Teil auch bisher unveröffentlichtes Archivmaterial. Doch in den seltensten Fällen werden The Who, die Rolling Stones oder Janis Joplin dabei in Bestform erwischt. Weder gibt es die größten Klassiker zu hören noch wirklich ultimative Auftritte zu sehen. Die Musik, die man hört, ist mitunter so lahm, dass man kaum nachvollziehen kann, wie sie all die gesellschaftlichen und kulturellen Neuerungen ausgelöst haben soll, von denen hier die Rede ist.
Auch die Riege der Experten ist bis auf wenige Ausnahmen eher zweite Liga. Wer sich auf die Jagd nach der Essenz des Rock machen will, käme wohl eigentlich kaum auf die Idee, Jimmy Carl Black (Schlagzeuger von Frank Zappas Mothers Of Invention), Garry Duncan von Quicksilver Messenger Service oder Reg Presley, den Sänger der Troggs, als bedeutendste Zeitzeugen zu sprechen. Doch ebenso wie an legendäre Konzertmitschnitte kamen die Macher an prominentere Namen wohl nicht ran.
Deshalb meint man manchmal, ein Buch wäre die bessere Form für Jérôme de Missolz musikalische Zeitreise gewesen. Als Film bleibt Wild Thing ein Vergnügen vor allem für Kenner.
So klingt der Abspann der Doku: Wild Thing in der Version von The Damned:
httpv://www.youtube.com/watch?v=mPyIBTw1w7s