Die höchste Eisenbahn – „Ich glaub dir alles“

Künstler Die höchste Eisenbahn

Die Höchste Eisenbahn Ich glaub dir alles Review Kritik
Einen kunterbunten Mix aus Mensch, Tier und Geist zeigt des Cover von „Ich glaub dir alles“.
Album Ich glaub dir alles
Label Tapete
Erscheinungsjahr 2019
Bewertung

Ich bin kein Experte in diesen Dingen, habe aber gerade mal nachgeschaut: Die höchste Eisenbahn der Welt, zu der ich Daten finden konnte, wurde in den 1940er Jahren in den USA gebaut. Die Lokomotive gehörte zur 4000er Klasse der Union Pacific Railroad, hatte den treffenden Spitznamen „Big Boy“, wog 350 Tonnen und schaffte eine Höchstgeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern. Ach ja, die Höhe: 4,94 Meter.

Mit Moritz Krämer (Gesang, Texte, Gitarre, Klavier, Synthesizer), Francesco Wilking (Gesang, Texte, Gitarre, Klavier, Synthesizer), Felix Weigt (Bass, Klavier, Synthesizer, Klanglabor) und Max Schröder (Schlagzeug, Percussion) hat all das vermeintlich wenig zu tun. Seit 2011 spielen sie gemeinsam als Die höchste Eisenbahn, zunächst ausschließlich als Live-Kollektiv. Bei der Entscheidung für einen gemeinsamen Bandnamen spielte der Big Boy aber zumindest in der Fantasie durchaus eine Rolle. „Irgendwann hatte ich eine wache Sekunde, in der ich diesen Ausdruck gehört habe – die höchste Eisenbahn –, ohne dabei zu denken: Schnell, schnell, beeilen, sondern hab mir tatsächlich eine riesige, auf Stelzen fahrende Eisenbahn vorgestellt. Das war so ein magischer Moment, der sich sofort in eine Bandnamen-Assoziation umgewandelt hat“, erklärte Francesco Wilking einmal im Gespräch mit Fudder.

Gleich in zweifacher Hinsicht ist diese Wahl auf Ich glaub dir alles, dem übermorgen erscheinenden dritten Album der Band, wieder sehr relevant. Erstens zeigt das Zitat die Entschlossenheit zu Kontemplation und Reflexion. „Höchste Eisenbahn“ steht ja eigentlich für maximale Dringlichkeit und hektischen Aktivismus – genau diesem will sich das Quartett verweigern. Schon der Albumauftakt Aufregend und neu belegt das. Der Titel mag zwar nach Hype klingen, das Lied erweist sich aber als Hinweis darauf, dass man die Aufregung und Abwechslung, die das Leben bietet, auch im schnöden Alltag erkennen kann, und dass man dazu am besten mit den Augen eines Kindes auf die Welt schaut. Der Sound dazu ist funky und heiter, sodass der Opener der erste von etlichen Momenten auf dieser Platte wird, in denen man an eine deutsche Entsprechung von Belle & Sebastian denken kann. Als Plädoyer für Entschleunigung kann man auch Derjenige begreifen, das mit sehr schönen Klangdetails vom kleinen Glück erzählt, oder das (auch im Sound) märchenhafte Überall.

Der vergleichsweise entspannte Entstehungsprozess der Platte ist ebenfalls ein Beispiel dafür. „Wir haben die Musik zusammen im Wendland erspielt, eine Woche lang, im Ferienhaus eines Bekannten. Francesco und ich saßen danach noch ein Jahr bei mir im Wohnzimmer und lasen uns gegenseitig Strophen vor“, erzählt Moritz Krämer. „Jetzt weiß ich nicht mehr, wer was geschrieben hat“, sagt Francesco Wilking. „Die Platte hat unsere Identität aufgegessen und einen bunten Chief daraus gemacht.“ Dieser ist nun auch auf dem Cover von Ich glaub dir alles zu sehen, gezeichnet vom ghanaischen Künstler Ataa Oko.

Zweitens zeigt die Wahl des Bandnamens, wie gerne Krämer und Wilking die deutsche Sprache sezieren, auf Seltsames stoßen, wo andere nur Selbstverständlichkeiten wahrnehmen, oder rätselhafte Metaphern und neue Bedeutungen erschaffen. Rote Luftballons ist ein gutes Beispiel dafür: Worum es geht, bleibt auch bei ziemlich intensiver Exegese unklar, die Wirkung des Liedes ist aber in jedem Fall so heiter und beschwingend wie, nunja, rote Luftballons. So siehst du nicht aus ist noch stärker prototypisch für den Charakter der Höchsten Eisenbahn: verschroben, aber tanzbar; nahbar, aber geheimnisvoll; aus dem Leben, aber nicht offensichtlich.

Neben der Könnerschaft der Beteiligten (es sei darin erinnert, dass Die höchste Eisenbahn im Prinzip eine Supergroup ist, denn Wilking spielte früher bei Tele, Weigt ist auch bei Kid Kopphausen aktiv, Schröder bei Tomte) erweist sich die Entscheidung, nicht wie bei den Vorgängern Schau in den Lauf Hase (2013), und Wer bringt mich jetzt zu den Anderen (2016) nicht selbst zu produzieren, sondern für diese Aufgabe Moses Schneider (Tocotronic, Annenmaykanntereit, Olli Schulz) an Bord zu holen, als sehr gute Idee. Ich glaub dir alles strahlt heller und wirkt zugleich noch direkter und organischer als die ersten beiden Alben.

Kinder der Angst entwickelt erstaunlich viel Tempo und Punch, im elektronisch dominierten 37,5° sorgt nicht nur der Discobeat für ein hohes Maß an Eingängigkeit, Zieh mich an interpretieren Krämer und Wilking wie ein Duett, auch hier wohl mit dem Hinweis, dass Ironie und Coolness keine sinnvollen Kategorien bei der Suche nach Glück sind. Louise entpuppt sich als Traumfrau, aber natürlich ist diese (zugeschriebene) Rolle für keinen der Beteiligten in dieser Schwärmerei sehr gesund. Umsonst beschließt das Album herrlich melancholisch und mit viel Klasse. Der Protagonist in Job verliebt sich durch seine neue Arbeit erst in eine junge Dame und dann in einen Song und erkennt: Mit einem Lied kann man manchmal glücklicher sein als mit einer Person, vor allem, weil einen das Lied nicht zurückweisen kann. Enttäuscht hält möglicherweise dem gesellschaftlichen (und auch persönlichen) Hang zum Pessimismus den Spiegel vor, bevor es in ein wirklich wunderbar optimistisches Finale mündet.

Das Spiel mit Sprache und Stimmungen lässt sich auf Ich glaub dir alles zwar gewohnt schwer entschlüsseln, wird dadurch aber umso reizvoller. Nicht zuletzt entwickeln Die höchste Eisenbahn damit eine beachtliche Aktualität: Für Zeiten voller Verwirrung und Sehnsucht ist das genau die richtige Musik.

Ausgelassenheit regiert im Video zu Aufregend und neu.

Mit dem Album geht die Band natürlich auch auf Tour:

14.08.2019 Berlin, Festsaal Biergarten
20.08.2019 Berlin, Hamburg, Molotow Hinterhof
18.10.2019 Magdeburg, Moritzhof
19.10.2019 Leipzig, Täubchenthal
20.10.2019 Rostock Helgas Stadtpalast
21.10.2019 Köln, Gloria
24.10.2019 Hannover, Musikzentrum
25.10.2019 Erlangen, E-Werk
26.10.2019 A-Wien, Flex
27.10.2019 München, Technikum
29.10.2019 Stuttgart, Im Wizemann
30.10.2019 CH-Zürich, Papiersaal
21. und 22.11.2019 Berlin, Festsaal Kreuzberg
23.11.2019 Kiel, Die Pumpe
24.11.2019 Hamburg, Dock’s
25.11.2019 Bochum, Bahnhof Langendreer
27.11.2019 Dresden, Tante Ju

Website von Die höchste Eisenbahn.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.