Künstler | Die Nerven | |
Album | Fluidum | |
Label | This Charming Man | |
Erscheinungsjahr | 2012 | |
Bewertung |
Morgen breche ich aus heißt das dritte Lied auf dem vor fünf Jahren erschienenen Debütalbum von Die Nerven. Die Takte, in denen zu Beginn nur das Schlagzeug zu hören ist, könnten eine dieser Hymnen auf Definitely Maybe eröffnen. Aber danach folgt kein plakatives Monster-Riff wie bei Oasis, sondern eine verschwommene Gitarre, später dann die Aufforderung „Du suchst ein neues Hobby? Drück‘ Heroin!“ Das zeigt, wie gerne das Trio aus der Nähe von Stuttgart provoziert, wie wenig einverstanden die Band mit dem gesellschaftlichen Status Quo ist, aber auch, wie gut Die Nerven die Möglichkeiten von GitarreSchlagzeugBass verstanden haben. Fluidum macht daraus einen sehr intelligenten, ziemlich einmaligen Noiserock.
Vom Leben & Sterben steht am Beginn der Platte, scheint mit Schweigen zu beginnen, diese Ruhe wird dann erst zur Unruhe, dann zum Inferno. „Menschen wie Dich interessiert es nicht, ob sie leben oder sterben“, lautet die einzige, mehrfach wiederholte Textzeile. Der Song offenbart die Wut von Nirvana (in der Tat will man auch bei den folgenden Liedern gelegentlich lieber nochmal nachschauen, ob auf dem Cover nicht ein nacktes Baby zu sehen ist, das nach einer Dollarnote taucht) und das Ungestüm der frühen Tocotronic, von denen sie auch die Erkenntnis übernommen haben, dass eine einzige Zeile ausreicht, wenn damit schon alles gesagt ist und dass jedes weitere Wort die Botschaft nur verwässern würde.
Vergleichbare Slogans hat Sänger Max auf Fluidum noch reichlich auf Lager. „Ich wünschte, mein Körper wäre ein Schrapnell“, singt er in Schrapnell, der Bass zu Beginn ist schon entsprechend blutrünstig, das kurz darauf einsetzende Schlagzeug dann brachial. Die Zeile „Ich folge einer Linie bis in den Tod“ gibt dem Songtitel Bald einen sehr düsteren Unterton, der giftige Sound dazu könnte von den Doors stammen, wenn die ihre Todessehnsucht nicht poetisch gemeint hätten, sondern wirklich ernst.
„Ich und du sind in Wirklichkeit die Bösen“, attestiert er in Die Bösen, dahinter steckt die Erkenntnis, dass Moral von der Mehrheit der Anderen definiert wird, und dass „Ich und du“ zu dieser Mehrheit nicht dazugehören, sondern Verlierer und Außenseiter bleiben. Für Jahre setzt auf ähnlich viel Zynismus außerdem auf eine klassische Laut-Leise-Dynamik, die mit stoischen New-Wave-Elementen gepaart wird, und auf das zwielichtige Versprechen: „Wenn du zum Denkmal erstarrst, machst du dich unsterblich.“ Bei aller Kälte, die im Sound von Unersättlich steckt, muss man doch Mitleid mit Die Nerven haben, wenn Max singt: „Ich bin auf der Flucht / verloren / wie ein hilfloses Tier.“
Dieses Gefühl der Verletzlichkeit ist sehr präsent auf Fluidum, trotz des ruppigen und kantigen Sounds. Haut & Knochen beispielsweise ist knüppelharter Punk, behandelt aber die Frage, ob unsere Isolation wirklich absolut ist. Irgendwann geht’s zurück handelt von vergeblichen Fluchtversuche, stets zum Scheitern gebracht durch das unerbittliche Zurückgeworfensein auf das, wer, wie und wo wir nun einmal sind: „Irgendwann geht’s zurück.“
Taumel, Schwindel und Rausch sind weitere wichtige Leitmotive („Wie so oft verschwimmt alles vor meinen Augen“, singt Max in Schrapnell), sie kommen auch im letzten und besten Lied von Fluidum zur Geltung: In Der letzte Tanzende erzählt Max nicht von der Erfüllung einer euphorisierenden Partynacht, sondern von der Verzweiflung über seine Einsamkeit, von der Enttäuschung über womöglich verpasste Chancen, auch von seinem Selbsthass wegen des Anteils, den er an beidem hat, und wegen der Ahnung, dass die nächste Partynacht genauso enden wird. Der Song zeigt perfekt, worin die sehr besondere Anziehungskraft von Die Nerven besteht: Die Texte klingen assoziativ und spontan, gerade deshalb wirken sie so direkt und unmittelbar, und genau daraus erwächst ihre oft erschütternde Wucht.