Die Schreie der Mädchen aus Afrika

Dafina Steger (Florence Kasumba) will im Tatort ihre Tochter beschneiden lassen.
Dafina Steger (Florence Kasumba) will im Tatort ihre Tochter beschneiden lassen.

«Haben Sie jemals diese Schreie gehört?», fragt der Arzt Werner Großmann die Kommissare. «Die Schreie der afrikanischen Mädchen, nachts in ihren Hütten, wenn sie von ihren Müttern festgehalten werden und ihnen mit stumpfen, rostigen Messern die Klitoris herausgeschnitten wird? Ihnen die Vagina zugenäht wird?» Er kann den Ermittlern dabei nicht ins Gesicht blicken, sondern bloß aus dem Fenster schauen, ins Nichts, mit dem Rücken zu den Polizisten.

Die Szene verdeutlicht gut, wie heikel das Problem ist, das der Tatort aus Ludwigshafen am Sonntagabend thematisierte: Genitalverstümmelung. Die Kommissare Lena Odenthal und Mario Kopper untersuchten den Tod einer Lehrerin, und die Spur führte zu einer Hilfsorganisation für Afrika. Dr. Großmann (Stephan Schwartz) engagiert sich in dem Verein, und er war auch lange in Afrika im Einsatz, um Bürgerkriegsflüchtlingen zu helfen. Immer wieder wurde er dabei mit Genitalverstümmelung konfrontiert, die er schließlich so grausam fand, dass er die Operation selbst vornahm, um den Mädchen wenigstens die Schmerzen der brutalen Prozedur zu ersparen. «Ich habe diese Schreie gehört», versucht er sein Handeln zu rechtfertigen.

Der Eingriff, der oft ohne Narkose vorgenommen wird, reicht von der Abtrennung der Klitorisvorhaut bis zu deren Entfernung gemeinsam mit den kleinen Schamlippen. In manchen Ländern werden auch die großen Schamlippen beschnitten und anschließend mit Dornen, Nadeln und Fäden verschlossen. Ein Viertel aller Mädchen stirbt an den unmittelbaren und langfristigen Folgen der Genitalverstümmelung, schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Wer überlebt, erleidet unerträgliche Schmerzen, und keines der Mädchen kann später Lust beim Sex empfinden.

In letzter Minute können die Kommissare im Tatort verhindern, dass ein kleines Mädchen, das mit seiner Mutter aus Somalia nach Deutschland geflohen war, sich dem «grausamen Ritual» unterziehen muss, wie Ulrike Folkerts als Lena Odenthal die Operation nennt. Aber ist so etwas wirklich denkbar? Genitalverstümmelung, mitten in Deutschland?

Ja. Nach Schätzungen der WHO leben weltweit rund 130 Millionen Frauen mit verstümmelten Genitalien. In Deutschland sind es 20.000, schätzt die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Die  «Taskforce für die effektive Prävention von Genitalverstümmelung» geht sogar von 40.000 aus. Oft sind die Frauen aus afrikanischen Ländern nach Deutschland eingewandert. Aber auch Mädchen, die schon hier leben, sind in Gefahr – wie das fiktive Mädchen im Tatort aus Ludwigshafen.

Viele Mädchen werden im Alter zwischen vier und zwölf Jahren zur Beschneidung nach Afrika gebracht. Teilweise werden auch Beschneiderinnen nach Deutschland eingeflogen. Wenn der Eingriff in Deutschland vorgenommen wird, gilt das als gefährliche Körperverletzung und ist strafbar. Oftmals kommt es aber nicht zu einem Verfahren, weil die meist Minderjährigen ihre Eltern nicht anzeigen oder gar nicht wissen, dass Genitalverstümmelungen etwas Unnormales sind. Wenn sie dann erkennen, was ihnen angetan wurde, ist die Tat oft bereits verjährt.

Die weibliche Beschneidung geht nicht auf religiöse Vorschriften zurück, sondern ist kulturell begründet. «Vor allem auf dem Land fürchten Familien immer noch, aus der Gesellschaft ausgestoßen zu werden oder keinen Mann für die Tochter zu finden, wenn diese nicht beschnitten ist», erklärt Franziska Gruber, die bei Terre des Femmes im Referat Genitalverstümmelung arbeitet. Obwohl die Beschneidung von Mädchen auch in den meisten afrikanischen Ländern längst verboten ist, wird weltweit weiterhin alle elf Sekunden ein Mädchen an den Genitalien verstümmelt. Sudan, Somalia, Ägypten und Äthiopien sind nur einige der Länder, in denen der grausame Eingriff weiterhin üblich ist.

«Äthiopische Eltern lieben ihre Kinder genauso wie alle Eltern auf der Welt und wollen ihnen die beste Erziehung und Ratschläge mitgeben, damit sie in der Gesellschaft respektiert und akzeptiert werden. Die Beschneidung war eine traditionelle Pflicht und eine der Voraussetzungen für die gesellschaftliche Anerkennung junger Mädchen», sagt Almaz Böhm. Die Ehefrau von Karlheinz Böhm setzt sich in der Organisation «Menschen für Menschen» gegen die Genitalverstümmelung ein.

Auch andere Prominente versuchen, mehr Aufmerksamkeit für das Problem zu schaffen. Schauspielerin Nina Hoss wurde während der Dreharbeiten zum Film Die weiße Massai mit der Praxis der Genitalverstümmelung konfrontiert. «Es hat mich erschüttert zu sehen, wie sich die jungen Mädchen auf ihre Beschneidung freuen», erzählte sie vor einigen Jahren in der Zeit. Der Eingriff ist für sie «eines der schlimmsten Verbrechen, die im Namen der so genannten Ehre auf dieser Erde geschehen».

Die nach wie vor prominenteste Kämpferin gegen Genitalverstümmelung ist das ehemalige somalische Topmodel Waris Dirie. Sie wurde als Mädchen selbst Opfer dieses Eingriffs und sorgte mit ihrem Buch Wüstenblume und seitdem als UN-Sonderbotschafterin dafür, dass das Thema in die Öffentlichkeit kommt und sogar in einem Sonntagabendkrimi wie dem Tatort auftaucht. Am Ziel sieht sich Waris Dirie aber noch lange nicht: «Das Problem ist, dass die Politiker einen Scheißdreck dagegen unternehmen. Sie interessieren sich einfach nicht dafür. Einfach deswegen, weil es ein weibliches Problem ist. Dabei haben alle Politiker eine Mutter, eine Frau oder eine Tochter. Ich verstehe das nicht. Ich finde das sehr frustrierend. Es macht mich traurig, dass sich so wenig verändert und dass ich nach zehn Jahren immer noch hier sitze und über dasselbe Thema spreche. Die Welt weiß, dass diese Verstümmelungen falsch sind und doch passiert nicht viel – ich verstehe nicht, warum die Welt dabei nur zuschaut.»

Diesen Artikel gibt es mit einer Fotostrecke zum Tatort aus Ludwigshafen auch bei news.de.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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