Abstand ist eine wichtige Eigenschaft, wenn man eine gelungene Dokumentation machen will. Es gilt, von außen auf die Geschehnisse zu blicken, vielleicht nachdem etwas Zeit vergangenen ist und sich die Dinge zurechtgerückt haben. Neutrale Expert*innen können Kontext beisteuern oder Vergleiche ziehen. Ein kritischer Blick auf womöglich im Nachhinein erst verfügbare oder als relevant erkannte Quellen kann neue Perspektiven eröffnen.
In Die Viva-Story – zu geil für diese Welt kommen allerdings nur sehr wenige Menschen zu Wort, die damals nicht zum Inner Circle gehörten. Musiker wie Smudo, H.P. Baxter, Sebastian Krumbiegel, Jasmin Wagner und Thees Uhlmann haben nämlich zumindest noch einen mittelbaren Bezug zur „Videoverwertungsanstalt“, wie das Akronym offiziell erklärt wurde. Das gilt auch für Musikmanagerin Stefanie Kim. Die einzig wirklich externe Stimme, die in den drei Folgen erklingt, ist die von Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout.
Die insgesamt gut 100 Minuten, die in der ARD-Mediathek verfügbar sind, zeigen aber schnell, dass das keineswegs ein Nachteil ist. Durch die drei Folgen namens Aufstieg, Triumph und Absturz führen mit Nilz Bokelberg, Markus Kavka und Collien Ulmen-Fernandes ehemalige VJs, und Ersterer kündigt sehr früh an, diese Dokumentation werde „gnadenlos subjektiv, immer selektiv“. Gerade darin liegt letztlich die Stärke dieses Rückblicks: Die Aufbruchstimmung der Zeit, als Viva am 1. Dezember 1993 auf Sendung ging, wird ebenso deutlich wie der erstaunliche Spirit, der die Macher*innen vor und hinter der Kamera offensichtlich verbunden hat.
Alle Beteiligten freuen sich hier glaubwürdig über das Wiedersehen und die Möglichkeit, in Erinnerungen an alte Zeiten zu schwelgen. Viele trauern diesen Zeiten auch unverhohlen nach, die nicht zuletzt ihre eigene Jugend waren. Ex-VJ Gülcan weint sogar, als sie von ihrem Abschied vom Sender berichtet, sehr viele andere Passagen haben den Charakter eines sehnsüchtig erwarteten Klassentreffens. Dass dabei niemand die ersten Schritte der eigenen TV-Karriere als peinliche Jugendsünde abtut, ist angesichts einiger der Archivaufnahmen mindestens überraschend, spricht aber für das offensichtlich sehr positive Betriebsklima der Gründungsphase.
Hannes Rossacher, dessen Videoclip-Produktionsfirma DoRo zu den größten Profiteuren der Idee eines deutschen Musikfernsehsenders gehörte, sagt zum kometenhaften Start von Viva: „Das erste Jahr war der Perfect Storm.“ Im Rückblick könnte man meinen, der Erfolg wäre logisch gewesen, wenn man in den frühen Neunzigern ein Angebot schafft, das Freiheit, Hedonismus und natürlich Pop feierte, eine klaffende Lücke besetzt (es gab keine Musikformate mehr im deutschen Fernsehen) und nicht zuletzt auch ein wieder aufkeimendes nationales Selbstbewusstsein stärkt. Doch es war damals keineswegs davon auszugehen, dass der Sender beim Publikum, bei den Musikschaffenden und sogar bei der Kritik so schnell so wohlwollend aufgenommen werden würde.
Dass man sich anfangs womöglich auch selbst keine allzu großen Hoffnungen über den eigenen Stellenwert machte, wird in der Dokumentation als der vielleicht alles entscheidende Erfolgsfaktor deutlich. Die Ausgangsbedingungen waren „weit weg von professionell“ (Ex-VJ Matthias Opdenhövel), die Gründungsmannschaft bestand aus „hoch ambitionierten Anfängern“ (Casting-Chef Marcus Wolter), statt ausgefeilter Konzepte für die reichlich vorhandene Sendezeit gab es allenfalls „einen Ansatz an Profilhoffnung“ (Geschäftsführer Dieter Gorny). Das führte zu einem Ausmaß an kreativer Freiheit, das erstens für viel Authentizität sorgte. Während das durchgestylte, aus London für ganz Europa sendende, ultracoole MTV für deutsche Musikfans immer ein wenig larger than life und unerreichbar wirkte, konnte man sich bei Viva tatsächlich vorstellen, die Leute auf dem Bildschirm könnten auch die coolen Kids aus der eigenen Schule oder WG sein. Da waren, ganz anders als in früheren deutschen Musikformaten wie Formel eins oder Ronny’s Pop-Show, tatsächlich sehr junge (und aus heutiger Sicht erstaunlich diverse) Menschen vor der Kamera zu sehen, die wie junge Menschen sprachen und Pop als einen selbstverständlichen (und wichtigen) Bestandteil ihres Lebens betrachteten.
Zweitens führte das laissez faire als Grundprinzip zu Frei- und Spielräumen, die heute in Zeiten, in denen selbst vermeintliche Reality-Shows durchgescriptet sind, kaum mehr vorstellbar erscheinen und schnell eine Eigendynamik ermöglichten, die in provokant-anarchischen Charakteren wie Tobi Schlegl und Stefan Raab, in der extremeren Ausprägung auch Niels Ruf und Charlotte Roche mündete. Überspitzt gesagt: Was bei MTV eigentlich nur im Most Wanted-Format mit Ray Cokes möglich war, das gab es bei Viva rund um die Uhr: Augenhöhe und Austausch mit dem Publikum sowie reichlich Raum für Überraschungen, Improvisation und sogar Pannen.
Selbst, als 1995 mit Viva Zwei bereits eine Brand Extension erfolgte, war das noch ein Programm „von Freaks für Freaks“, wie es Thees Uhlmann hier treffend nennt. Damals konnten sich die Viva-Gesichter bereits selbst wie Rockstars fühlen (und manchmal auch aufführen), nicht zuletzt weil Geld ohne Ende da war, wie der zweite Teil der Dokumentation unterstreicht. Nur zwei Jahre nach dem Start hatte Viva bereits eine einzigartige Popkultur-Machtposition mit riesigem Einfluss auf die Jugend des Landes und die Musikindustrie. Bezeichnenderweise markiert die Idee eines Börsengangs im Jahr 2000, mit dem der Sender zwangsläufig viel stärker an der Erwartungshaltung von Investoren, Werbetreibenden und Publikum ausgerichtet werden musste, recht deutlich den Wendepunkt in dieser Geschichte und den Beginn des Niedergangs von Viva.
Wie anders diese Glanzzeiten auch jenseits des TV-Geschäfts waren, deutet Die Viva-Story – zu geil für diese Welt immer wieder gekonnt an. Schröder statt Kohl, Konsum statt Krise, Bravo statt Spotify – mit ganz knappen Bildern werden diese Rahmenbedingungen skizziert, in denen sich die Viva-Geschichte entfalten konnte. Aleksandra Bechtel schwärmt davon, wie das Team der ersten Stunde ständig miteinander Kontakt gehalten hat, obwohl noch niemand ein Handy hatte, die Fragen und Wünsche der Zuschauer*innen von Interaktiv quellen tatsächlich noch aus einem Faxgerät. Und am 11. September 2001 kracht dann tatsächlich auch die echte Welt da draußen in die heile Welt von „Viva liebt dich“ – auch wenn der Ausstieg von Robbie Williams bei Take That sechs Jahre zuvor für die Zielgruppe offensichtlich die dramatischere Nachricht war, wie hier deutlich wird.
Wie groß der Impact dieses Senders war, der stets nur sehr überschaubare Marktanteile hatte, wird von Die Viva-Story – zu geil für diese Welt noch einmal sehr bunt, unterhaltsam und durchaus auch gehaltvoll in Erinnerung gerufen, mit mindestens drei sehr nachhaltigen Effekten. Erstens sind das die Köpfe: Wenn man 30 Jahre nach dem Sendestart von Viva den Fernseher einschaltet, dürfte kaum ein Tag vergehen, an dem man nicht einem der Gesichter begegnet, die dort ihre Karriere begonnen haben und (neben den bereits Erwähnten) teilweise zu festen Größen der TV-Landschaft geworden sind, von Oliver Pocher bis Jessica Schwarz, von Klaas Heufer-Umlauf bis Heike Makatsch, von Matthias Opdenhövel bis Sarah Kuttner, von Daniel Hartwig bis Enie van de Meiklokjes.
Zweitens hat Viva die Musiklandschaft in Deutschland radikal verändert und in gewisser Weise re-nationalisiert. Im Jahr 2022 stammten zwei Drittel der Alben in den Top100 der deutschen Charts aus eigenen Landen, bei den Singles lag der Anteil über 50 Prozent, die Verteilung in den zurückliegenden Jahren sieht ähnlich aus. Zum Vergleich: 1992 und 1993, den letzten Jahren vor dem Viva-Urknall, waren jeweils nur sechs deutschsprachige Singles in den Top100 der Jahrescharts vertreten, bei den Alben betrug der Anteil deutscher Produktionen 15 (1992) bzw. 25 (1993) Prozent. Die neue Ausspielstation und die Omnipräsenz von Viva machte also nicht nur deutlich, dass man hierzulande Pop, Rock, Dance und sogar Rap hinbekommen kann, der irgendwie tatsächlich cool ist. Viva machte vielen Talenten auch deutlich, in welchem Maßstab sich damit kommerzielle Erfolge erzielen lassen. „Made in Germany“ war jetzt nicht mehr igitt, zweite Liga oder Möchtegern, sondern hatte den Beweis angetreten, dass es kreativ, relevant und vielleicht sogar ein bisschen glamourös sein konnte.
Drittens lässt die Dokumentation auch die beträchtliche Leerstelle erkennen, die Viva hinterlassen hat. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten wäre es ein Leichtes, ähnliche Inhalte beispielsweise auf YouTube oder TikTok zu präsentieren, natürlich weiterhin auch im Spartenfernsehen. Doch solche Angebote gibt es nicht. Das liegt am Wandel der Musikindustrie, am Fehlen geburtenreicher Jahrgänge in der Pop-relevanten Zielgruppe, auch am fehlenden Mut etablierte Medien. Und es führt dazu, dass in unserer über-fragmentierten Gegenwart eine Rolle fehlt, die Bokelberg, Kavka und Ulmen-Fernandes vielleicht mindestens ebenso vermissen wie die turbulente Zeit Anfang/Mitte der 1990er Jahre: Niemand hat mehr die Funktion, einen Kanon zu definieren und damit auch ein stückweit Orientierung zu schaffen und sogar Gemeinschaft zu stiften.