Diet Cig – „Do You Wonder About Me?“

Künstler Diet Cig

Diet Cig Do You Wonder About Me? Review Kritik
Für ihr zweites Album haben sich Diet Cig deutlich mehr Zeit gelassen.
Album Do You Wonder About Me?
Label Frenchkiss Records
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

Einer der vielen Vorteile, wenn man in einer Band spielt und Alben macht: Man hat dann Dokumente seiner eigenen Geschichte. Im besten Fall drückt ein Album aus, wie man zu einer bestimmten Zeit seines Lebens gerade drauf war, welche Themen wichtig und welche Einflüsse prägend waren, welche Ästhetik man bevorzugte. Eine Platte ist dann praktisch ein vertontes Tagebuch, und die Diskografie einer Band wird zum akustischen Fotoalbum, in dem man die verschiedenen Lebensstationen nachverfolgen kann.

Diet Cig sind eigentlich zu jung, um das schon zu schätzen zu wissen: Alex Luciano (23) und Noah Bowman (26) haben dieses Duo 2014 gegründet. Doch vielleicht hat gerade ihr Dasein als Band dazu geführt, dass sie diesen Effekt offensichtlich bereits sehr genau erkannt haben. Do You Wonder About Me?, ihr heute erscheinendes zweites Album, ist jedenfalls geprägt vom Thema der persönliche Entwicklung. Night Terrors reflektiert zu einem unruhigen Sound, dass wir alle aus einer Reihe mehrerer (im besten Falle: ständig wachsender) Inkarnationen bestehen. „Am I still these people, or have I shapeshifted?“, fragt sich Alex Luciano. Das extrem reduzierte Worth The Wait hat einen ähnlichen Bekenntnis-Charakter. Auch Broken Body greift das Thema noch einmal auf, mit viel Wucht und Breite im Refrain, zwischendurch dann mit einem umso überraschenderen Harmoniegesang, der so zuckersüß klingt wie bei Wilson Phillips. “I’m still all the people I’ve ever been“, lautet darin die Erkenntnis, die für uns alle gilt, „no matter how hard you try to curate yourself.“

Dieses Einstehen für die eigene Persönlichkeit, inklusive all der damit verbundenen Defizite, war schon typisch für Swear I’m Good At This (2017). Dass Diet Cig jetzt so klar den Unterschied zwischen Damals und Heute betrachten, hat dabei auch mit der anderen Herangehensweise ans neue Album zu tun. Das Debüt war schnell entstanden und vor allem von der Live-Erfahrung des Duos geprägt. Diesmal zogen sich die beiden bewusst nach Richmond, Virginia zurück und arbeiteten sehr lange an den neuen Songs, die dann mit Produzent Chris Daly aufgenommen wurden. „Wir haben nach dem ersten Album viel Zeit damit verbracht, menschlich zu wachsen. Menschen zu sein, die gerade nicht auf Tour sind. Unser Hochstapler-Syndrom abzulegen“, erklärt Alex Luciano.

Die Fans des Debüts werden ihre Lieblinge selbstverständlich auch hier erkennen. Do You Wonder About Me? ist ein Dokument von Wachstum und Entwicklung, nicht von Neuerfindung und Selbstverleugnung. Flash Flood beginnt mit Punk-Krawall und hat auch danach all die unschuldige Energie, die diese Band vor allem live auszeichnet. Auch Stare Into The Sun entwickelt beträchtliche Dramatik und Dynamik. Who Are You beginnt mit Handclaps und Gesang, dann übernimmt das Schlagzeug von Noah Bowman, aber die Stimme von Alex Luciano bleibt im Scheinwerferlicht. „Who are you to say ‚I’m sorry‘ / when we both know you’d do it all over again”, lautet ihr Vorwurf darin. Am Ende steht ein kurzer Gitarrenakkord wie ein Punkt, der gesetzt wird, ein Basta. „Dieser Song ist für jeden, der schon einmal eine völlig eigennützige Entschuldigung von jemanden erhalten hat, der einem wehgetan hat. Ich habe gelernt, dass Heilung nicht dann eintritt, wenn sich jemand bei dir entschuldigt, sondern dann, wenn du selbst damit klar kommst“, sagt Alex Luciano.

Thriving ist das Lied, das den Diet-Cig-Charme am unmittelbarsten transportiert. Dieser Auftakt der Platte „fühlt sich an wie eine kathartische Befreiung von der Bitterkeit anderer Menschen. Es ist die Anerkennung der Tatsache, dass es in Ordnung ist, sich immer noch zu fragen, was andere Leute von einem denken, obwohl du weißt, dass es dir egal sein sollte“, erklärt Alex Luciano. Neben diesem Leitmotiv der Band gibt es auf Do You Wonder About Me? auch kleinere Experimente, die den Reifeprozess illustrieren. Priority Mail ist eine Skizze aus Gesang und Klavier, das reduzierte Makeout Interlude würde im Live-Kontext kaum Sinn machen, ist hier aber ein wichtiger Baustein für die Dramaturgie des Albums. Am Ende taucht Night Terrors als Reprise noch einmal auf, mit einer verfremdeten Stimme, großen stilistischen Freiheiten und viel Sensibilität, ähnlich der bei Japanese Breakfast.

Als Schlusspunkt ist das ein toller Beleg dafür, dass die Entwicklung von Diet Cig erstens enorm schnell und zweitens in eine sehr spannende Richtung verläuft. Alex Luciano hofft, dass die Fans an dieser neuen Vielfalt genauso viel Freude haben werden wie das Duo selbst: „Du lachst! Du weinst! Du tanzt! Du wirst emotional! Wir wollen alles!“

Mit einer virtuellen Release-Party haben Diet Cig das neue Album gefeiert.

Website von Diet Cig.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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