Der junge Mann gibt sich wirklich alle Mühe. Er springt ausgelassen vor dem Schaufenster herum, er tanzt, zieht Grimassen. Wie ein Fußballprofi, der gerade ein Tor geschossen hat, zeigt er stolz auf sein T-Shirt. „Mein letzter Tag als Junggeselle“ steht darauf. Dann leckt er tatsächlich die Schaufensterscheibe ab.
Julika Thomas bleibt davon unbeeindruckt. All das spielt sich vor ihren Augen ab, doch sie sitzt eisern hinter der Scheibe – und liest. Sie darf nicht aufhören, keine Pause machen. Schließlich wird sie überwacht. Eine Kamera hat sie ständig im Visier, auf dem Boden flimmert ein Monitor. Daneben sind Kekse verstreut, Plastikbecher liegen umher. Die Nudeln aus der Mikrowelle sind längst kalt. Hinter Julika sieht es ähnlich aus: zerwühlte Schlafsäcke, Handtücher, ein Kuscheltier. Und Bücher. Überall Bücher.
Auf der ersten Seite von Kapitel 26 in Henning Mankells Die Rückkehr des Tanzlehrers, haben sie es dann endlich geschafft: Weltrekord! Seit 52 Stunden und fünf Minuten lesen Julika und ihre fünf Mitschülerinnen aus der 10L2 der Winfriedschule Fulda. Damit haben sie die bisherige Bestmarke im Dauerlautlesen um eine Minute überboten. Thomas Keune, technischer Leiter von Optiker Sauerborn in Fulda, hatte die Idee zu der Aktion und sieht vor seinem Laden nun eine spontane Party entstehen: Uta Greis zählte die letzten Sekunden herunter, dann brandet Jubel auf.
Im Überschwang stößt jemand gegen das Mikrophon, es kracht in den Lautsprechern. Magdalena Zeiler umarmt stürmisch eine Freundin: „Wir ham’s, wir ham’s!“ Markus Bente, Klassenlehrer der sechs Schülerinnen, geht zum Schaufenster und streicht stolz das Wort „Versuch“ von dem Plakat, auf dem eben noch „Weltrekord-Versuch“ stand. Blaue Prosecco-Fläschchen machen die Runde. „Trinkt nicht so viele, die brauchen wir doch noch heute Nacht“, warnt Simone Schwarze.
Denn die 16-Jährigen wollen den Rekord nicht nur brechen, sondern auch möglichst lange behalten. 60 Stunden haben sie sich zum Ziel gesetzt. Jede von ihnen liest 35 Minuten, dann wird gewechselt. Während drei immer im Schaufenster sitzen, können sich die anderen drei ausruhen. „Die erste Nacht haben wir fast gar nicht geschlafen. Aber wenn man dann richtig müde ist, geht es“, erzählt Sabrina Rippl.
Neben der Müdigkeit ist die Stimme das größte Problem: Salbeibonbons schützen nach stundenlangen Lesen vor Heiserkeit. Daneben bekommen die Leseratten auch jede Menge moralische Unterstützung. Viele Lehrer, Mitschüler und Freunde schauen rein. „Wildfremde Menschen haben den Mädchen Eis vorbeigebracht“, erzählt Markus Bente. Motivierend waren auch die zahlreichen interessierten Passanten. „Zwei Jungs haben sich wirklich zweieinhalb Stunden hingesetzt und zugehört“, freut sich Markus Bente.
Er dokumentiert die Aktion in einem Logbuch, damit die Bestmarke auch im Guinness-Buch der Rekorde anerkannt wird. „Seit Donnerstagnachmittag habe ich drei Stunden geschlafen“, erzählt er – wohlgemerkt – am Samstagabend. Dennoch ist er zuversichtlich: „Die 60-Stunden-Marke packen wir auf jeden Fall.“
Sechs Stunden später nimmt sich Thomas Keune noch einen Becher Kaffee. „Was die Mädels hier schaffen, ist wirklich eine Riesenleistung“, sagt er leise. Den angebotenen Stuhl lehnt er ab: „Wenn ich mich jetzt hinsetze, komme ich nicht mehr hoch.“
Auch den Mädchen fällt es jetzt immer schwerer, die Augen offen zu halten. Ann-Kathrin Stidronski kann sich nicht einmal mehr erinnern, was sie beim Durchbrechen der Bestmarke gerade vorgelesen hat. „Es ging um irgendeinen Peter“, weiß sie noch. Von Büchern hat sie für die nächsten Tage erst einmal genug. 61 Stunden und 16 Minuten Dauerlautlesen haben sie am Ende geschafft. Julika Thomas fühlt sich nach dieser Zeit – und einer Sektdusche zum Abschluss – im Optikerladen „fast ein bisschen zu Hause. Aber wir sind trotzdem froh, wenn wir uns endlich ins eigene Bett legen können“. Dort können die sechs dann gleich den nächsten Rekord aufstellen: im Dauerlangschlafen.