Mistaken For Strangers

Film Mistaken For Strangers

Mistaken For Strangers Kritik Rezension The National
Matt Berninger ist genervt von den Fragen seines Bruders.
Produktionsland USA
Jahr 2013
Spielzeit 75 Minuten
Regie Tom Berninger
Hauptdarsteller*innen Tom Berninger, The National
Bewertung

Worum geht’s?

Mit ihrem fünften Album High Violet erreichten The National Platz 3 in den US-Charts, auch in etlichen weiteren Ländern ist die Band aus Cincinnati damit äußerst erfolgreich. Auf der anstehenden Tournee soll Tom Berninger, der jüngere Bruder des Frontmanns Matt Berninger, die Band begleiten. Sein eigentlicher Job ist es, den Torumanager zu unterstützen. Tom, der sich bereits zuvor als Amateurfilmer versucht hat, nutzt die Gelegenheit allerdings auch für reichlich Filmaufnahmen, die sowohl Konzertmitschnitte zeigen als auch Interviews mit den Mitgliedern von The National und Szenen hinter den Kulissen des Touralltags. Weil er für diese Filmidee seine eigentliche Aufgabe vernachlässigt, wird er drei Monate vor Ende der Tournee schließlich gefeuert – was seine Idee einer Dokumentation über die Konzertreise noch etwas abwegiger macht.

Das sagt shitesite:

Für Fans von The National verspricht Mistaken For Strangers, benannt nach einem Song vom vierten Album der Band, womöglich wenig Erfüllung. Weder bietet der Film spektakulär inszenierte Konzertmitschnitte noch wird die Gelegenheit genutzt, um beispielsweise die Bandmitglieder ausführlich zur Entstehung ihrer Musik zu befragen.

Für alle anderen ist dies aber eine sehr originelle Interpretation des Genres Rockumentary: Dass man im Jahr 2013 noch einen so erfrischenden, intimen, witzigen und wohl auch authentischen Film über die Tournee einer Rockband machen könnte, hätte man kaum mehr für möglich gehalten. Dies gelingt einerseits, weil The National eine sehr besondere Band sind: Zwei Brüderpaare und ein Sänger, die jahrelang vergeblich auf Erfolg hofften und nun plötzlich doch noch große Hallen mit einer eingeschworenen Fangemeinde bespielen können. Andererseits und hauptsächlich gelingt es durch den improvisierten, fast anarchischen Charakter der Aufnahmen von Tom Berninger, der seinen neun Jahre älteren Bruder eben nicht als glamouröses Fabelwesen betrachtet, sondern als seinen neun Jahre älteren Bruder. Es ist diese Weigerung, den Frontmann, seine Band, seine Musik und das gesamte Musikgeschäft aus einer sich unterordnenden Perspektive der Bewunderung zu betrachten, die Mistaken For Strangers so eindrucksvoll macht.

Schon in den ersten Szenen wird klar: Der Exzentriker in der Familie Berninger ist erstaunlicherweise nicht derjenige, der Abend für Abend im feinen Anzug auf der Bühne steht. Sondern der kleine Bruder, der als Hobby ein paar Splatter-Filme gedreht hat, viel lieber Heavy Metal hört als den Indie-Rock von The National („pretentious bullshit“) und noch bei den Eltern wohnt. Durch die Diskrepanz zwischen ihnen entsteht die Spannung des Films: Loser und Rockstar, Scheitern und Erfolg – das sind die Koordinaten. Tom Berninger inszeniert sich nicht nur freiwillig als Verlierer, er stellt implizit auch die Frage, ob der Erfolg des älteren Bruders wirklich verdient ist – und vor allem, ob es angemessen ist, ihn deshalb für einen wertvolleren Menschen zu halten, wie sein Umfeld das ganz offensichtlich tut. Was als Dokumentation über die Tour von The National beginnt, endet somit als Analyse der Beziehung der beiden Brüder, als Reflexion über Loyalität  – und als Katharsis für Tom. Denn obwohl er auch hier zunächst scheitert und allen Beteiligten so sehr auf die Nerven geht, dass er gefeuert wird, bringt er den Film doch zu Ende und kann, womöglich zum ersten Mal in seinem Leben, stolz auf das Erreichte sein.

Neben dieser spannenden persönlichen Ebene ist Mistaken For Strangers extrem witzig. Alles an diesem Film ist unvorbereitet, improvisiert und amateurhaft, und daraus erwachsen unter anderem absurd unterhaltsame Interviewfragen. Tom Berninger muss sich offensichtlich nicht sonderlich anstrengen, um als unerträgliche Nervensäge zu erscheinen. Niemand nimmt ihn ernst und er leistet (trotz der überschaubar anspruchsvollen Aufgaben als Assistent des Tourmanagers, zu denen etwa das Bereitstellen von Handtüchern, das Sortieren von Kabeln oder das Ausdrucken der Gästeliste gehören) nichts, um sie eines Besseren zu belehren.

Es gibt etliche Szenen, in denen wohl nicht viel gefehlt hat, um ihm die Kamera aus der Hand zu schlagen oder ihm anderweitig die Leviten zu lesen. Dass dies nicht geschieht, liegt natürlich auch daran, dass dieser Mitarbeiter ausgerechnet der Bruder des Frontmanns ist – wie uneitel Tom mit diesem Vorwurf, ein nutzloser Schmarotzer zu sein, umgeht, und wie sehr er diesen Bonus strapaziert, sorgt für eltiche Momente des Fremdschämens. Es zeigt auch, wie streng die Hierarchien und wie groß die erforderliche Professionalität im angeblichen „ein paar Kumpels haben Spaß“-Rockgeschäft sind. Vor allem aber führt es dazu, die Hörigkeit vorzuführen, die wir gegenüber Prominenten an den Tag legen und die sogar ihre Entourage und ihre nutzlose Verwandtschaft einschließt.

Gerade die familiäre Bande sorgt für die enorme emotionale Fallhöhe in Mistaken For Strangers: Wäre dieser Film nicht vollendet worden, hätte das womöglich tatsächlich einen irreparablen Schaden für die Beziehung der beiden Brüder bedeuten können. Dass man dabei sein kann, wenn beiden dies klar wird, wenn Matt womöglich bereut, seinen kleinen Bruder mitgenommen zu haben, und wenn Tom womöglich klar wird, dass es keine gute Idee war, die intimste Familienbande in einem Kinofilm zu thematisieren, das macht den Reiz dieses Films aus.

Bestes Zitat:

„Having Matt as my older brother sucks. Because he’s a rock star and I am not. And it has always been that way.“

Der Trailer zum Film.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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