Autor | Al Gore | |
Titel | Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern | |
Verlag | Siedler | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
Mit der Zukunft ist das so eine Sache. Man weiß zwar ziemlich genau, wann sie kommt, aber nie, was sie bringt. Der Germanist und Zukunftsforscher Bernd Flessner hat in einer Studie sogar ermittelt: Wenn es um die korrekte Vorhersage der Zukunft geht, liegen Science-Fiction-Geschichten öfter richtig als wissenschaftliche Prognosen.
Man sollte also vorsichtig sein, wenn ein Buch Die Zukunft heißt, selbst wenn es von einem Mann geschrieben wurde, der acht Jahre lang Vizepräsident der USA war und 2007 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde. Al Gore greift in seinem neuen Wälzer die sechs Kräfte heraus, die unsere Zukunft seiner Ansicht nach am radikalsten prägen werden. Die Kapitel heißen „Die Welt AG“ (zur zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft), „Das Weltgehirn“ (zur Digitalisierung), „Machtfragen“ (zur Neuordnung der geopolitischen Machtverhältnisse), „Auswüchse“ (zu Fehlsteuerungen des Kapitalismus) und „Die Neuerfindung von Leben und Tod“ (zu den Trends in Lebenswissenschaften, Neurowissenschaften und Gentechnik). Am meisten Raum räumt Al Gore dem letzten Kapitel ein; in „Abgrund“ betrachtet er den Klimawandel und seinen Folgen – es ist das Thema, das er schon in Eine unbequeme Wahrheit als Film und Buch mit großem Erfolg unters Volk gebracht hat.
Er wollte ein Buch schreiben „über die sechs wichtigen Triebkräfte des globalen Wandels, wie sie konvergieren und interagieren, wo sie uns hinführen und wie wir – als Menschen und als globale Zivilisation – die Entwicklung dieses Wandels beeinflussen können. Wenn wir unser Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen und die Zukunft gestalten wollen, müssen wir neu und besonnen über die essentiellen Entscheidungen nachdenken, die vor uns liegen“, betont Gore in der Einleitung. Und, so viel vorab: Wenn man Die Zukunft liest, muss einem angst und bange werden.
Unser politisches System ist am Boden (Gore schreibt von der „Sklerose der Demokratie“), der Kapitalismus ist außer Rand und Band, die Erde ächzt unter all dem, was wir ihr in unserer kurzsichtigen Gier antun. Die Zukunft „liest sich wie Dantes Gang durchs Inferno […] fürs digitale Jahrtausend“, hat die Süddeutsche Zeitung ganz treffend geschrieben. Gerade die Tatsache, dass der Autor in diesem Buch auch viele historische Rückgriffe liefert und die aktuelle Situation so in einem größeren Kontext einordnet, macht viele der von ihm beschriebenen Prozesse so beunruhigend.
Wir werden überrannt, in ganz vielen Bereichen, wir erkennen die Dimension und das Tempo vieler Entwicklungen nicht, erst recht fehlt uns die Zeit für eine reflektierte Debatte, ob wir bestimmte Entwicklungen überhaupt wollen und wie eine solide Gesetzgebung aussehen könnte, die diesen Entwicklungen einen Rahmen setzt. Es ist die vielleicht größte Leistung dieses Buches, viele dieser Entwicklungen – die vor allem im Bereich der Wissenschaft und Wirtschaft oft nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen, aber umso wirkungsmächtiger sind – aufzugreifen und ihre Relevanz deutlich zu machen. Zugleich stellt Al Gore damit auch die Fragen in den Raum: Von wem werden wir überrannt? Was treibt diese Entwicklungen und die Menschen, die dahinter stehen? Was könnten die unliebsamen Folgen ihres Treibens sein? Und nicht zuletzt: Wie kann man sie stoppen und das Heft des Handelns wieder denen geben, die demokratisch legitimiert sind, über die Gestaltung unseres Lebens und unserer Welt zu befinden?
An diesem Punkt wird Al Gore durchaus zuversichtlich. Am Ende der Einleitung betont der 66-Jährige: Er hat keine Angst vor der Zukunft, sondern ist Optimist. Sein Buch kann schlaflose Nächte bereiten, aber er betont immer wieder die Möglichkeiten zur Gestaltung. Das Buch ist keine Warnung vor der Zukunft, sondern vor der Passivität. Nicht zuletzt macht sein Werk damit auch deutlich: Unser Bild von der Zukunft sagt etwas über unser Selbstbild in der Gegenwart aus.
Er zeigt an vielen Stellen Empörung, er verweist gerne auf ethische Prinzipien und er erweist sich unzweifelhaft als Aktivist. Doch seine Argumentation ist, zumindest in den allermeisten Fällen, keine moralische oder emotionale, sondern basiert auf Fakten. Gerade das verleiht ihr Stärke. Diagramme vor jedem Kapitel zeigen die Verknüpfungen der von ihm betrachteten Aspekte und die Komplexität des Themas (teilweise werden in diesen Grafiken bis zu 70 Begriffe in Clustern angeordnet). Er setzt dabei gerne auf faktenreiche Analysen, mit denen er beispielsweise eines der zentralen Probleme der „Welt AG“ belegt: Trotz Wachstums und höherer Produktivität entstehen keine Jobs mehr und die Einkommen steigen nicht im gleichen Maße. Ebenso hellsichtig sind seine Mahnungen, das Bruttoinlandsprodukt endlich ad acta zu legen, und zwar zunächst als Messgröße für das Wohlergehen eines Landes, viel mehr aber noch als Götze, dem wir unsere gesamte Politik unterwerfen.
Dabei bringt Gore auch Verständnis dafür auf, dass Otto Normalverbraucher bei vielen Entwicklungen längst den Anschluss verpasst hat. Denn wir sind aus verschiedenen Gründen schlecht vorbereitet auf eine derart dynamische und fundamentale Veränderung, wie sie derzeit abläuft. „Unser Gehirn unterscheidet sich strukturell nicht wesentlich von dem unserer Vorfahren vor 200.000 Jahren. Da sich durch die Entwicklung der Technik unsere Lebensweise radikal verändert hat, sind wir gezwungen, unsere Kultur schneller anzupassen, als es uns möglich oder auch nur plausibel erscheint“, schreibt er beispielsweise. An anderer Stelle geht er auf das überholte Denken im System von Nationalstaaten ein und betont: „Diese mächtige Triebkraft des globalen Wandels, die bisweilen unpräzise und unzutreffend als ‚Globalisierung’ bezeichnet wird, markiert nicht nur das Ende einer historischen Ära und den Beginn einer neuen, sondern auch die Emergenz einer völlig neuen Realität, mit der wir Menschen zurechtkommen müssen.“
Nichtsdestotrotz geht er hart mit der Gegenwart ins Gericht, vor allem mit Blick auf die USA. An einigen Stellen gleicht dieses Buch geradezu einer Abrechnung mit der aktuellen politischen Kultur seiner Heimat. „Um es mit einem in der Sprache der Softwareindustrie beliebten Ausdruck zu sagen: Die amerikanische Demokratie wurde gehackt“, schreibt er zum Beispiel. „Der Kongress der Vereinigten Staaten – die Verkörperung der demokratisch gewählten gesetzgebenden Körperschaft eines Landes in der modernen Welt – ist heute nicht mehr in der Lage, Gesetze ohne die Genehmigung der Unternehmenslobbys und anderer Interessengruppen zu verabschieden, die das Geld für Wahlkämpfe bereitstellen.“
Die politische Lähmung der USA, so macht er deutlich, ist dabei nicht nur für die Amerikaner schlecht, sondern fatal für die ganze Welt, weil eine Führungskraft und ein Motor fehlt, um Strategien im Umgang mit den gefährlichen Fehlentwicklungen zu kreieren und durchzusetzen. Auch als moralische Instanz sind die USA spätestens seit George W. Bush nicht mehr geeignet, meint Gore.
Auch aus deutscher Perspektive sollte man sich Sorgen machen. Gore benennt in allen von ihm behandelten Bereichen auch Strategien zum Umdenken, politische, technische und wissenschaftliche Lösungen und nutzt das letzte Kapitel seines Buchs, um Empfehlungen abzugeben. Aber die einzigen Deutschen, die in Die Zukunft vorkommen, sind (in dieser Reihenfolge): Johann Wolfgang von Goethe, Johannes Gutenberg, Martin Luther, Adolf Hitler, Karl Marx, Johannes Kepler, Helmut Kohl, Fritz Haber, Joseph Goebbels, Friedrich Schiller und – als Einzige von allen Genannten, die womöglich tatsächlich noch etwas zur Gestaltung der Zukunft beitragen könnten – Wolfgang Sterk, ein Politikwissenschaftler vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, und Wolfram Schlenker, ein Klimaforscher, der allerdings auch schon seit mehr als zehn Jahren in den USA tätig ist. Für das 21. Jahrhundert scheint das Volk der Dichter und Denker (und Ingenieure) keine relevante Rolle mehr zu spielen.
Bestes Zitat: „In einer Situation, in der die Zukunft der menschlichen Zivilisation auf dem Spiel steht, versagen die Demokratie und der Kapitalismus gleichermaßen kläglich darin, in den Dienst der ureigensten Interessen der Menschheit zu treten. Beide sind schwerfällig, und beiden befinden sich in einem Zustand des Niedergangs. Wenn wir aber die Schwachstellen in unseren gegenwärtigen Versionen der Demokratie und des Kapitalismus beheben, sie von den Übeln der Korruption, der Übermacht der Konzerne und der Vorherrschaft der Eliten befreien, dann werden diese Systeme von unschätzbarem Wert dafür sein, die globale Zivilisation in die richtige Richtung zu lenken, bevor es zu spät ist.“