Autor | Alexander Demandt | |
Titel | Zeit. Eine Kulturgeschichte | |
Verlag | Propyläen | |
Erscheinungsjahr | 2015 | |
Bewertung |
Es ist nachvollziehbar, dass der Verlag da in Versuchung kommt, ein bisschen zu mogeln. Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte hatte einer der jüngeren Erfolgstitel von Alexander Demandt geheißen. Einen ganz ähnlichen Untertitel bekommt nun das neue Werk des Althistorikers, der bis 2005 an der Freien Universität Berlin tätig war. Dabei macht der Autor schon sehr früh in diesem Buch klar: Er hat keine Geschichte der Zeit geschrieben, auch keine Kulturgeschichte. Er legt sogar mit bestechender Logik dar, warum eine solche gar nicht möglich wäre. Vielmehr geht es ihm „um die Geschichte der Zeitkultur vorwiegend in der westlichen Welt, um die Herkunft und Entwicklung unserer Begriffe für Zeit vom Augenblick zur Ewigkeit, es geht um die verzweifelten Versuche, die Zeit in den Griff zu bekommen, um die schillernden Vorstellungen über sie, früher und heute, kurz: um eine Archäologie des Kalenders“.
Das ist der vielleicht wichtigste Satz aus dem Vorwort von Zeit. Eine Kulturgeschichte, das allerdings mit so vielen erlesenen Zitaten und Sinnsprüchen angereichert ist, dass es beinahe ein wenig schwatzhaft wirkt. Zwar zeigt Demandt mit diesen einleitenden Bemerkungen sehr gut seine Bindung zu dieser „Thematik, die mich selbst wie keine andere belehrt hat“ und die schon in zahlreichen seiner Vorarbeiten deutlich wurde. Er deutet aber zugleich auch eine Eigenschaft an, die auf den späteren Seiten wiederholt als Problem dieses Buches erscheint: Es gibt sehr viel Wissen, aber manchmal zu wenig Schlussfolgerung.
Lange Passagen mit Aneinanderreihungen stehen neben kompakten Analysen und gelegentlichen Exkursen; insgesamt hat man als Leser dennoch manchmal den Eindruck, als sei dieses Buch in erster Linie eine Materialsammlung, deren Inhalt zwar tief durchdacht und gut geordnet ist, deren eigentlicher Gehalt aber gerade durch die Fülle des Stoffs verschleiert ist. Beispielsweise hätten in den Kapiteln zu Zeitsymbolen und Zeitgöttern oder Festen, Feiern und Gedenktagen auch deutlich weniger Beispiele ausgereicht, um große Entwicklungsstränge, wichtige Parallelen und Singuläres aufzuzeigen.
Der positive Aspekt dieser Aufbereitung ist der Handbuch-Charakter, den Zeit. Eine Kulturgeschichte gewinnt und der durch das sehr hilfreiche Register gestärkt wird. Das Buch ist auch weit davon entfernt, langweilig zu sein: Demandt erlaubt sich gelegentlich ein paar Scherze und streut auch – ganz bewusst als solche gekennzeichnete – amüsante Banalitäten ein. An einigen Stellen wird er sogar persönlich. So erfährt der Leser, welchen Wein der Historiker während des Schreibens gerade trinkt, auf welche Ideen ihn seine Frau beim Frühstück gebracht hat oder welche eigenen Eindrücke er beim Besuch von archäologischen Stätten oder Museen gewonnen hat.
Nicht zuletzt betrachtet er ein Sujet, dessen Faszination und Wirkungsmacht man in diesem Buch wunderbar nachspüren kann. „Die Omnipräsenz der Uhr seit der frühen Neuzeit erklärt ihre Beliebtheit als Denkbild für den Kosmos, den Organismus und den Staat. So wie die Zahnräder und Bauelemente der Uhr ihre je eigene Funktion erfüllen und damit das Werk als Ganzes in Gang halten, dachte man sich das harmonische Zusammenwirken der Elemente in komplexen Strukturen“, schreibt Demandt etwa, und das ist nur eines von sehr vielen Beispielen, die belegen, wie sehr unsere Vorstellung von Zeit tatsächlich unser Bild der Welt prägen.
Der Autor beleuchtet – naturgemäß mit einem Schwerpunkt auf der Antike – die Entstehung des Kalenders, Traditionen von Feiertagen, den Blick auf die eigene Lebenserwartung in verschiedenen Zeitaltern oder die von der Nachwelt vorgenommene Einteilung der Geschichte in Epochen. Er räsoniert sehr lesenswert über die Möglichkeit von Geschichtslosigkeit und zeigt vor allem immer wieder, wie sehr eine scheinbar so natürliche und ewige Größe wie die Zeit auf menschlicher Konstruktion beruht und ihrerseits dem Wandel der Zeit unterliegt. Es sind diese Passagen, die das größte Lesevergnügen bereiten und für manch überfüllte Aneinanderreihung antiker Fundstellen in Zeit. Eine Kulturgeschichte entschädigen. Am besten ist Alexander Demandt in diesem Buch eindeutig, wenn er nicht nur die enorme Menge seiner Quellen kompiliert, sondern interpretiert, analysiert und kommentiert.
Bestes Zitat: „Der Tag des Blitze schleudernden Jupiters, der dies Jovis, wurde zum Tag des germanischen Donnergottes Donar, Donnerstag, bei den Angelsachsen nach Thor zum Thursday. Der Freitag, Tag der Frija, geht zurück auf den der römischen Venus, dieser auf den der griechischen Aphrodite, dieser auf den der babylonischen Ischtar. War das nicht der Weg der Kultur überhaupt?“