Autor | Arthur Schnitzler | |
Titel | Traumnovelle | |
Verlag | Süddeutsche Bibliothek | |
Erscheinungsjahr | 1926 | |
Bewertung |
Fridolin ist 35, Arzt, verheiratet und Vater eines Kindes. Eines Abends unterhält er sich mit seiner Frau über verpasste amouröse Gelegenheiten, über Betrug und Verführung, über einen Blick, einen Kuss, der in ein ganz anderes Leben hätte führen können. Dann wird er zu einem Patienten gerufen, der im Sterben liegt. Es ist der Auftakt zu einer Nacht, die ihn mit allerlei Herausforderungen konfrontiert: Er soll seinen Mut beweisen, seine Potenz, seine Treue, Fürsorge, Opferbereitschaft, letztlich seine Lebendigkeit.
Es ist fast ein bisschen schade, dass man den Plot von Arthur Schnitzlers Traumnovelle in der Regel schon kennt, denn die meisten Leser des Jahres 2013 dürften Eyes Wide Shut gesehen haben, den Stanley-Kubrick-Film mit Nicole Kidman und Tom Cruise, der auf diesem Buch beruht. Das nimmt dem Werk allerdings nur wenig von seinem erotischen, philosophischen und literarischen Reiz. Denn das Entscheidende der Traumnovelle ist nicht das Ziel, sondern der Weg.
Kaum dass er die eigenen vier Wände und das provokante Gespräch mit seiner Frau hinter sich gelassen hat, spürt Fridolin, dass er nicht Herr seiner selbst ist. „Wie heimatlos, wie hinausgestoßen erschien er sich (…). Länger schon (…) rückte er immer weiter fort aus dem gewohnten Bezirk seines Daseins in eine andere, ferne, fremde Welt.“ Mit jedem Mini-Abenteuer, das ihm begegnet – ein alter Freund, eine blutjunge Verführerin, eine Prostituierte, schließlich eine geheime Orgie – ist er ein Stückchen mehr verwirrt und berauscht von den „Erlebnissen dieser Nacht, deren keines einen Abschluss gehabt hatte“.
Ohne dass er es merkt, ist es die ganze Zeit die Eifersucht, die ihn treibt, und die auch dadurch nicht erträglicher wird, dass sie womöglich nur von seiner Fantasie gespeist wird. Fridolin wird geplagt von der Vorstellung, er könnte nicht der einzige Mann sein im Leben seiner Gattin. Er erkennt: Vertrauen ist niemals vollständig – und „kein Traum ist völlig Traum“.
Noch stärker wirkt in der Traumnovelle aber ein anderer Effekt, der aus dem Arzt (das war übrigens auch der Hauptberuf von Arthur Schnitzler) innerhalb einer Nacht einen ganz anderen Menschen macht. Am Anfang ist Fridolin ein überzeugter Biedermann, am Ende ein beinahe nihilistischer Draufgänger. An einer Stelle wird ihm klar, „dass all diese Ordnung, all dieses Gleichmaß, all diese Sicherheit seines Daseins nur Schein und Lüge zu bedeuten hatten“. Zuvor fragt er sich: „Was lag ihm an eines andern, was an seinem eigenen Leben? Sollte man es immer nur aus Pflicht, aus Opfermut aufs Spiel setzen, niemals aus Laune, aus Leidenschaft oder einfach, um sich mit dem Schicksal zu messen?“
Das ist der im höchsten Maße verführerische Kern der Traumnovelle: Fridolin erkennt plötzlich, dass er zwischen Wirklichkeit und Illusion nicht nur abwägen, sondern sogar wählen kann. Ihn beschleicht die Ahnung, dass da unter der Routine des Alltags noch ein anderes Ich steckt, das nach Abenteuern dürstet. Und er weiß am Ende dieser Nacht: Das Leben ist elend leer ohne Rausch, Lust, Versuchung und Unvernunft.
Bestes Zitat: „In jedem Wesen, das ich zu lieben meinte, habe ich immer nur dich gesucht.“