Bertolt Brecht – „Flüchtlingsgespräche“

Autor Bertolt Brecht

Flüchtlingsgespräche Bertolt Brecht Kritik Rezension
Die „Flüchtlingsgespräche“ schrieb Bertolt Brecht im Exil in Finnland und den USA.
Titel Flüchtlingsgespräche
Verlag Bibliothek Suhrkamp
Erscheinungsjahr 1961
Bewertung

Ein „Selbstgespräch zu zweit“ hat der Spiegel dieses Werk genannt, als es 1961 erstmals erschien. Bertolt Brecht hatte die Flüchtlingsgespräche zu Lebzeiten nicht mehr fertig gestellt. Der größte Teil des Textes entstand 1940 in Finnland, weitere Teile kamen 1942 in den USA hinzu. Dort war Brecht gelandet, nachdem ihn seine Flucht aus dem Dritten Reich, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, zunächst nach Prag, Wien, Paris und in die Schweiz, dann nach Dänemark, Schweden, Finnland und schließlich über die Sowjetunion nach Kalifornien geführt hatte.

Diese Ausgabe in der Bibliothek Suhrkamp versammelt erstmals in einer Einzelausgabe diesen Text, ergänzt um vier zusätzliche und später im Nachlass gefundene Passagen. Die Form ist typisch Brecht: Der Physiker Ziffel und der Arbeiter Kalle Winter treffen sich in einem Café in Helsiniki. Was sie verbindet, ist einerseits die deutsche Herkunft und die Flucht vor Hitler (der im gesamten Buch nicht namentlich erwähnt wird), andererseits die Einsamkeit und Langeweile im Exil. Die Unmöglichkeit, produktiv zu sein, bringt beide dazu, über Bier und Zigaretten zu klagen, mit Frauengeschichten und wissenschaftlichem Renommee zu prahlen und sogar eine eigene Schrift zu entwickeln. Vor allem aber ergehen sie sich in politischen und philosophischen Betrachtungen.

Dabei ist es keineswegs so, dass Kalle und Ziffel fern der Heimat frei von der Leber weg die Schreckensherrschaft zuhause und die Lage der Welt beklagen. Sie haben längst gelernt: Um das Gastrecht nicht zu strapazieren, das sie als Flüchtlinge genießen, sind Vorsicht und Rücksichtnahme das oberste Gebot. Sie tuscheln und verklausulieren – auch dann, wenn es um die großen Themen der Zeit geht. Ironie und Sarkasmus nutzt Bertolt Brecht als wichtigste Stilmittel der Flüchtlingsgespräche („Ich wunder mich nur, dass sie grad jetzt so aufs Zählen und Einregistrieren der Leut aus sind. (…) Sie müssen ganz genau wissen, dass man der und kein anderer ist, als obs nicht völlig gleich war, wens verhungern lassen.“).

Man kann darin durchaus so etwas wie einen Verfremdungseffekt sehen: Gerade dadurch, dass es selten konkret wird und viele Gedanken den (vermeintlich) provisorischen Charakter des Flüchtlingsdaseins behalten, gelingt es, die Slogans der Machthaber lächerlich zu machen und die Ideen der Zeit zu hinterfragen. Dass fast alle politischen Lager letztlich nur Phrasen zu bieten haben und eine Klientel gegen die andere auszuspielen versuchen, wird im Café in Helsinki nirgends so formuliert, ist aber dennoch überdeutlich.

Auch darin liegt der Reiz beim heutigen Wiederentdeckung dieses Werks: Parallelen zur aktuellen Situation gibt es nicht nur beim Blick auf die Schwierigkeiten des Lebens in der Fremde als Migrant, sondern auch hinsichtlich der Ursachen von Flucht: Krieg, politische Verfolgung, nicht zugleich soziale Ungleichheit als Folge eines entfesselten Kapitalismus („Mit unserer ganzen Existenz hängen wir allesamt von der Wirtschaft ab und sie ist so eine komplizierte Angelegenheit, dass, sie zu überblicken, so viel Verstand nötig ist, als es überhaupt nicht gibt!“) als die dahinterstehenden Kräfte.

Erstaunlicherweise gelingt es Brecht, diese Themen in eine fast angenehme Lektüre zu verwandeln. Er wählt für die Flüchtlingsgespräche einen süffisanten Ton, der tatsächlich unterhaltsam ist, freilich auch schmerzhaft. Denn er steht natürlich im strengen Kontrast zu der lebensbedrohlichen Lage, in der Ziffel und Kalle noch vor Kurzem waren (und schon bald wieder sein könnten, sollte sich das Land, in dem sie ein Refugium gefunden haben, entschließen, sie loswerden zu wollen), und der prekären Situation, in der sie sich ohne Arbeitserlaubnis, ohne persönliches Netzwerk und ohne nennenswerten sozialen Status in der Fremde noch immer sind.

Bestes Zitat: „Die beste Schule für die Dialektik ist die Emigration. Die schärfsten Dialektiker sind die Flüchtlinge. Sie sind Flüchtlinge infolge von Veränderungen und sie studieren nichts als Veränderungen. Aus den kleinsten Anzeichen schließen sie auf die größten Vorkommnisse, das heißt, wenn sie Verstand haben. Wenn ihre Gegner siegen, rechnen sie aus, wie viel der Sieg gekostet hat, und für die Widersprüche haben sie ein feines Auge. Die Dialektik, sie lebe hoch!“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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