Durchgelesen: Chris Womersley – „Beraubt“

Im Australien des Jahrs 1919 spielt "Beraubt" von Chris Womersley.
Im Australien des Jahrs 1919 spielt „Beraubt“ von Chris Womersley.
Autor Chris Womersley
Titel Beraubt
Verlag DVA
Erscheinungsjahr 2010
Bewertung

Zehn Jahre lang war er weg, und er hat den Ersten Weltkrieg überlebt. Jetzt kehrt Quinn Walker zurück in seine Heimatstadt Flint. Doch er kann kaum erwarten, dort mit offenen Armen empfangen zu werden: Die Menschen in dem australischen Städtchen mitten im Outback nennen ihn nur „den Mörder“, denn sie beschuldigen ihn, als 16-Jähriger eine schreckliche Tat begangen und sich dann aus dem Staub gemacht zu haben. Sollten sie ihn jemals wieder in die Finger kriegen, werden sie ihn aufknüpfen, haben gleich mehrere der Einwohner geschworen – darunter Quinns eigener Vater.

Quinn versteckt sich deshalb in den Bergen und trifft dort die 12-jährige Sadie. Ihr Vater hat die Stadt schon lange verlassen, ihre Mutter galt als verschrobene Hexe und ist kurz zuvor der tödlichen Grippeepidemie zum Opfer gefallen, die in Flint umgeht. Seitdem lebt Sadie alleine in der Wildnis, ebenfalls im Wissen, dass in der kleinen Stadt eher Gewalt und Gefahr auf sie warten als Geborgenheit und Heimat.

Die beiden belauern sich erst, dann gehen sie sich auf die Nerven, schließlich entspinnt sich zwischen Quinn und Sadie eine ungewöhnliche Freundschaft. Sie steht im Zentrum von Beraubt, dem mehrfach preisgekrönten zweiten Roman des australischen Autors Chris Womersley. Sein Buch wird sehr stimmungsvoll, sehr spannend („Hitchcock hätte ihn geliebt“, hat die Daily Mail über Womersley geschrieben) und geht dabei auch noch dem Wesen von Trauma, Rache und Gerechtigkeit auf den Grund. Dazu kommen ein paar sehr überraschende formale Kniffe: Auf Seite 13 von Beraubt ist eigentlich schon die gesamte Story bekannt, danach schafft es Womersley, trotz einer sehr reduzierten Sprache so etwas wie einen geheimnisvollen, beinahe esoterischen Schleier über seine Handlung zu legen.

Quinn Walker ist bei seiner Rückkehr ein Mann, der keinen Plan hat, aber einen (wenn auch diffusen) Antrieb. Er hat den Krieg erlebt („Menschen sind nichts, wenn sie in die Maschinerie der Geschichte geraten“, lautet seine Erkenntnis daraus), er fühlt sich beinahe schuldig, weil er ihn überlebt hat, und er ahnt, dass daraus die Verantwortung erwächst, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Immer wieder suchen ihn wirre Träume heim, und die mystischen Kräfte, die Sadie zu besitzen scheint, wenn sie mit Tieren spricht oder wie aus dem Nichts auftaucht, lassen ihn erst recht an seiner geistigen Gesundheit zweifeln.

Dieser Mann ist ein Grübler, voller Tiefe und Weisheit und Sehnsucht und Bedauern, obwohl er erst 26 ist. Womersley macht das vor allem mit sehr poetischen Bildern deutlich (zum Beispiel: „Er sah wie ihre Stirn zuckte und ihre Zehen sich bogen, die Morsezeichen ihres Traumes, die über ihren Körper tanzten.“), und er stellt ihm mit Sadie ein Mädchen gegenüber, das trotz seiner Zerbrechlichkeit schnell zur treibenden Kraft in Beraubt wird und das Heft des Handelns in die Hand nimmt. Sie drängt Quinn, seine Mutter zu besuchen, die im Sterben liegt, und die Leute in der Stadt zur Verantwortung zu ziehen, wegen denen er Flint zehn Jahre zuvor in Schimpf und Schande verlassen musste.

Immer wieder machen sich die beiden gegenseitig Mut, ein ums andere Mal retten sie einander aus der Gefahr, Stück für Stück schieben sie sich in eine Position, in der sie erkennen, dass sie mit der Vergangenheit abschließen müssen. Dabei enthält Beraubt reichlich Überlegungen zu Krieg, Gott und Familie, die mitunter sehr hellsichtig und kritisch sind, aber letztlich zu keinem Schluss führen als: Das Wichtigste ist es, am Leben zu bleiben. Und ein Mensch zu bleiben.

Bestes Zitat: „Es ist ein seltsamer Handel, den man mit den Göttern eingeht – dass man für die reinste Liebe, die man sich vorstellen kann, die ständige Angst ertragen muss, dem eigenen Kind könnte etwas Schreckliches zustoßen, und man trägt selbst die Schuld daran, weil man es zur Welt gebracht hat.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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