Autor | Christoffer Carlsson | |
Titel | Schmutziger Schnee | |
Originaltitel | Den fallande Detektiven | |
Verlag | C. Bertelsmann | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
Erstochen. Viel mehr lässt sich zunächst nicht sagen, als die Polizei in Stockholm die Leiche von Thomas Heber findet. Der Soziologe hatte gerade sein Büro in der Universität verlassen, wurde offensichtlich im Dunkeln überrascht, dann hat der Täter noch den Rucksack des Wissenschaftlers durchwühlt. Der einzige brauchbare Zeuge ist ein sechsjähriger Junge – und trotz dieser vergleichsweise gewöhnlichen Umstände interessiert sich schon bald der Geheimdienst für den Todesfall.
Wer war der Mörder? Es passt zu Christoffer Carlsson, das diese Frage in Schmutziger Schnee eine untergeordnete Rolle spielt. Schon im ersten Band der Reihe um Kommissar Leo Junker, Der Turm der toten Seelen, hatte er sich eher auf die Psychologie seiner Figuren konzentriert. Auch die heute in Deutschland erscheinende Fortsetzung folgt diesem Prinzip.
Zweifel, Ängste und Manipulation sind wichtige Themen, ganz explizit wird das, als der Kommissar einen ehemaligen Jugendfreund (den die Leser seines ersten Falls als gewieften Kriminellen kennen gelernt haben) in einer psychiatrischen Einrichtung besucht: „Die Besucherräume sind einfach, kühl und still. Im St. Görans hält man das für besser“, heißt es da. „Hier werden die Seelen verwahrt, die auf die eine oder andere Weise in den Abgrund geschaut und erlebt haben, wie der Abgrund zurückgeschaut, kurz geblinzelt und dann versucht hat, sie zu verschlingen.“
Solche Passagen sind kein Wunder: Der 1986 geborene Schwede ist nicht nur Shooting-Star der skandinavischen Krimi-Szene, sondern neuerdings auch promovierter Kriminologe. Sein Studium habe ihm gezeigt, wie wichtig der Blick auf das Innenleben der Täter ist, der auch in seinen Büchern eine so wichtige Rolle spielt: „Als Doktorand habe ich Wendepunkte in kriminellen Karrieren untersucht und sehr viele Interviews geführt. Warum haben manche Menschen plötzlich keine Verbrechen mehr begangen? Warum fallen andere in die Kriminalität zurück? Dadurch habe ich ein bestimmtes Wissen über die Dynamik von Verbrechen.“ Details aus seiner Forschungsarbeit verwendet er zwar aus ethischen Gründen nicht für seine Krimis. Trotzdem ist Carlsson sicher: „Die Interviews haben mich zu einem besseren Schriftsteller gemacht.“
Man kann diese These in Schmutziger Schnee bestätigt finden. Wie schon im ersten Leo-Junker-Band, der in Schweden 2013 als bester Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet wurde, ist der Plot sehr geschickt konstruiert, sein Stil lebt von Präzision und Klarheit. Waren die Abgründe, denen man in Der Turm der toten Seelen begegnete, noch eher sozialer Natur, sind sie diesmal explizit politisch – und hoch aktuell.
Das Mordopfer forschte nämlich zu radikalen politischen Gruppierungen, die Ermittlungsarbeiten führen sowohl in die links- als auch in die rechtsextremistische Szene. „Wenn ich schreibe, möchte ich meine Leser fesseln und sie unterhalten. Aber ich möchte auch die Grenzen des Genres erweitern und das ganze Potenzial ausschöpfen, das ein Krimi in sich trägt, indem er über die Abgründe der heutigen Gesellschaft erzählt“, sagt Carlsson, und sein neuer Roman offenbart viele der Schattenseiten im vorgeblichen Musterland des sozialen Friedens.
„Wir haben uns irgendwo unterwegs verirrt. Aus dem Volksheim wurde das Volksheim. Jetzt hat die Fremdenfeindlichkeit Rekordwerte erreicht. (…) Niemand weiß mehr, woran der andere glaubt und wer eigentlich was über wen denkt“, muss der Kommissar feststellen, als er sich mit den Aufzeichnungen des ermordeten Soziologen beschäftigt und die Mechanismen von Brutalität, Gruppenzwang, Verführung und Radikalisierung auf beiden Seiten erkennt.
Dass er nach dem Eingreifen des Geheimdienstes nur noch inoffiziell ermitteln kann, ist einer Lösung des Rätsels ebenso wenig zuträglich wie seine Konstitution, die schon in seinem ersten Fall reichlich ramponiert war. Er hat gerade erst wieder mit dem Dienst begonnen, versucht halbwegs erfolglos, von Beruhigungsmitteln runterzukommen und weiß selbst am besten, dass er weder körperlich noch geistig fit genug für die Polizeiarbeit ist.
Das sorgt für eine sehr eigene Atmosphäre in Schmutziger Schnee, die noch verstärkt wird durch einen heraufziehenden Wirbelsturm und die vorgebliche Idylle der des Lucia-Festes, mit der Leo Junker laufend konfrontiert wird. Die Vorgeschichte des Kommissars (nach einem missglückten Undercover-Einsatz auf Gotland wurde er zum Sündenbock gemacht und suspendiert, seitdem leidet er an Panikattacken) klärt Carlsson zwar erst nach einem knappen Drittel auf, aber das stärkt eher den unnachahmlichen Sound dieses Krimis.
In manchen Momenten ist Carlsson etwas übereifrig, beispielsweise beim viel zu häufigen Zitieren von Weihnachtsliedern. Auch die Geschichten von linken und rechten Überzeugungstätern und ihrer jeweiligen Sozialisation sind nicht frei von Klischees. Ein wenig überdeutlich sind auch die Schmankerl, die sich der Autor offensichtlich für den dritten Band der Reihe (es wird darin um Geheimdienstarbeit in den 1980ern gehen) aufspart. Trotzdem gelingt ein sehr spannender Krimi, der letztlich um die Frage der Loyalität kreist – nicht nur innerhalb der verschworenen Kreise der Rechts- und Linksextremen, sondern auch im Hinblick auf den Kommissar, der sich immer wieder fragen muss, wem er trauen darf und wem er sich vielleicht sogar offenbaren kann.
Bestes Zitat: „Es gibt keinen Katalysator, keinen auslösenden Faktor, der die Dinge ins Rollen bringt. Keine Antwort auf das Warum. Es gibt nur Ereignisse, auf die Ereignisse folgen, und wenn man weit genug in die Vergangenheit zurückblickt, wird alles zu einem unüberschaubaren Netz, und vielleicht ist das der Weg, denkt Christian jetzt, wie wir zu dem werden, was wir werden.“