Autor | Christoph Fasel |
Titel | Samuel Koch. Zwei Leben |
Verlag | Adeo |
Erscheinungsjahr | 2012 |
Bewertung | *** |
Sie nannten ihn „Amazing Joe“. Er war berühmt für seine spektakulären Zaubertricks, und nun wollte er noch eins draufsetzen: Joseph W. Burrus ließ sich im Jahr 1990 lebendig begraben. Doch sein eigens für diesen Trick gebauter Spezialsarg hielt der Belastung nicht stand. Der Zauberer starb mitten in seiner Performance.
Auch Steve Irwin liebte die Gefahr. Der Tierfilmer aus Australien, bekannt als „Crocodile Hunter“, kam 2006 ums Leben, als er sich bei Dreharbeiten zu nah an einen Stachelrochen wagte und ins Herz gestochen wurde. Ebenfalls vor laufenden Kameras starb der Wrestler Owen Hart im Jahr 1999. Er hatte sich für seinen Weg in den Ring etwas besonders Spektakuläres ausgedacht. Weil die Technik versagte, stürzte er aus 24 Metern Höhe vom Hallendach der Kemper-Arena in Kansas City auf ein Ringseil.
Sie alle forderten das Risiko heraus. Sie alle liebten den Nervenkitzel. Sie alle wollten ihre Furchtlosigkeit beweisen – vor einem möglichst großen Publikum. Auch Samuel Koch wollte das, als er am 4. Dezember 2010 bei Wetten Dass? antrat und mit Sprungfedern an den Füßen per Salto über fünf fahrende Autos hüpfen wollte. Auch bei ihm endete der Wagemut in einer Tragödie. Doch Samuel Koch hat, anders als Burrus, Irwin oder Hart, überlebt. Er kann seine Geschichte erzählen. Das führt dazu, dass bei ihm neben dem Schock, der Bestürzung und dem Kopfschütteln als unmittelbar Reaktionen noch etwas Neues dazukommt: Mitleid.
Es ist bewegend, wenn Samuel Koch in seiner gerade erschienenen Autobiografie Zwei Leben schildert, welch unmenschliche Schmerzen er erdulden musste nach dem Unfall, bei dem sich der damals 23-Jährige zwei Halswirbel gebrochen hat. „Gefühlt habe ich stundenlang um Hilfe gerufen, doch ich hatte keine Stimme. Ich rang nach Luft“, umschreibt er seine Ohnmacht an einer Stelle.
Es ist schockierend, wenn der Leser erfährt, wie schwer ihm der Alltag fällt. „Ich finde, dass Tetraplegie gegen das Grundgesetz verstößt. Denn ich musste erkennen, dass die Würde des Menschen sehr wohl antastbar ist“, fasst er beinahe flapsig den Horror des Alltags als Gelähmter zusammen, der vom Zähneputzen über Shopping bis hin zu Stürzen mit dem Rollstuhl reicht.
Zwei Leben macht klar: Hier hat das Schicksal auf denkbar brutale Weise zugeschlagen. Ein junger Mann wurde in der Blüte seines Lebens an seinem verletzlichsten Punkt getroffen. Samuel Koch war nach dem Sturz in Düsseldorf ein gebrochener Mann, nicht nur im Wortsinne. Er ist trotzdem einer, der die Hoffnung nicht aufgibt. Selbst wenn sich der Unfall nicht live vor einem Millionenpublikum ereignet hätte, wäre das Stoff für ein spannendes Buch und das Porträt einer faszinierenden Persönlichkeit.
Denn vor allem erzählt Zwei Leben die Geschichte des Kampfs zwischen Körper und Geist. Samuel Koch, Leistungsturner, Energiebündel, Draufgänger, nutzte seinen Geist ein ganzes Leben lang, um seinen Körper zu neuen Höchstleistungen anzuspornen. „Eigentlich waren Saltos seine natürliche Fortbewegungsart“, sagt seine Mutter, als sie im Buch von der behüteten Jugend des Jungen erzählt. Als „blonden Kraftkerl mit unerschütterlichem Selbstvertrauen“, nimmt ihn Thomas Gottschalk bei der ersten Begegnung wahr, wie der Moderator in seinem eindrucksvollen Vorwort zu Zwei Leben schreibt.
Nach dem Unfall kehrt sich dieses Verhältnis um: Der Körper fordert plötzlich Unmenschliches vom Geist. Samuel Koch muss sich mit der Tatsache abfinden, dass er vom Hals ab abwärts gelähmt ist. Als „Löwe im Käfig“ wird er im Buch gleich zweimal sehr treffend geschildert. Er ist kein athletischer Sunnyboy mehr, sondern der berühmteste Rollstuhlfahrer Deutschlands – oder, wie er es selbst in der Einleitung schreibt, ein „23-jähriger Typ, der noch nichts erreicht hat außer den Tiefpunkt seines Lebens“. Trotzdem will er in dieser Situation nicht die Hoffnung auf Genesung und Lebensfreude fahren lassen.
„Ein grotesker Kontrast zu dem Training, das ich früher als Turner absolviert habe. Doch jetzt geht es um viel mehr als die nächste Übung, den nächsten Wettkampf. Ich kämpfe um mich selbst. Um die Erhaltung und Erweiterung dessen, was ich noch sein kann. Um Freiheit und Selbstbestimmung“, bringt Samuel Koch diese Parallele selbst zur Sprache. Wie quälend dieser Kampf für ihn sein muss und wie unwirklich er sich auch knapp anderthalb Jahre nach seinem Sturz noch anfühlen muss, dass ist die wahre Geschichte dieses Buches.
„Manchmal habe ich einen solchen Bewegungsdrang, dass es sich wie eine Panikattacke anfühlt – wie Platzangst im eigenen Körper, der einbetoniert erscheint“, schreibt Samuel Koch. Es ist fast perfide schmerzhaft, wenn er sich erinnert, dass er früher kleine Wehwehchen immer am liebsten mit Sport kuriert hat („Bewegung war meine Medizin für alles“), und nun erkennen muss, dass er sich nicht mehr bewegen kann und dass es womöglich keine Medizin gibt, die daran etwas ändern wird. „Er wollte alles, und konnte fast nichts mehr“, fasst ein Arzt das Dilemma zusammen, in dem der 23-Jährige zu Beginn der Reha steckt. Man erkennt am Ende der Lektüre dieser gut 200 Seiten, wie viel Bitterkeit, wie viel Überwindung darin stecken muss, wenn der Gelähmte sagt: „Mein Körper ist einfach ein Langweiler und Waschlappen geworden.“
Ähnlich klare Worte findet Samuel Koch gemeinsam mit Co-Autor Christoph Fasel immer wieder. Es nötigt Respekt ab, wenn man liest, mit wie viel Kraft und Demut sich der junge Mann in seine Situation findet. Er lässt zwar Wut und Angst erkennen, sogar Selbstekel. Aber es gibt in Zwei Leben kein Selbstmitleid. Samuel Koch ist pragmatisch, nicht pathetisch, und das macht ihn bei aller Tragik der Ereignisse zu einem so sympathischen Erzähler.
Noch etwas trägt dazu bei: Es gibt keine Vorwürfe. „Es gibt keine individuelle Schuld, keinen bestimmten Umstand, der mich auf den Wagen prallen ließ, der von meinem Vater gesteuert wurde“, lautet die Antwort auf die quälende Frage nach dem „Warum ich?“. Selbst wenn er beschreibt, wie schwierig die Behandlung war und zwischen den Zeilen andeutet, dass andere Entscheidungen der Ärzte vielleicht zu besseren Ergebnissen geführt hätten („In den ersten Wochen hat sich ‚Murphy’s Law’ an mir total ausgetobt: Ich hatte das Gefühl, dass alles, was schiefgehen konnte, schiefgegangen ist.“), dann wird niemand dafür an den Pranger gestellt.
Stattdessen gibt es Dank für die beeindruckende Welle der Solidarität und den Zusammenhalt in der Familie nach dem Unfall. An einigen Stellen ist sogar Platz für Humor, auch wenn der mitunter etwas makaber daher kommt. „Nehmt mich doch mit!“, ruft Samuel Koch seinem Bruder aus dem Rollstuhl heraus zu, als der mit ein paar Freunden schwimmen gehen will. „Ihr könnt ja nach mir tauchen.“ Ein Foto zeigt ihn bei einer Mottoparty der Krankenschwestern in der Schweizer Reha-Klinik im Superman-Outfit – in Anspielung auf Christopher Reeve.
Auch schon ganz am Beginn schimmert diese Eigenart durch. Zwei Leben sei „ein Buch für Rollstuhlfahrer, für Nichtrollstuhlfahrer und für solche, die es werden wollen“, schreibt er da. Das zeigt: Samuel Koch kann wieder lachen. Er ist dabei, einen neuen Inhalt für sein neues Leben zu finden, und er hat die Hoffnung nicht aufgegeben. Damit beweist er viel mehr Mut als in einem Salto über ein fahrendes Auto jemals stecken könnte.
Bestes Zitat: „Wenn man Grenzen nicht überschreitet, entwickelt man sich nicht weiter.“