Autor | Clemens J. Setz | |
Titel | Indigo | |
Verlag | Suhrkamp | |
Erscheinungsjahr | 2012 | |
Bewertung |
Die „Zusammenfassung einer Handlung, die sich jeder Zusammenfassung entzieht“ gibt es auf dem Klappentext dieses Romans von Clemens J. Setz. Das ist sehr gut getroffen, denn Indigo wimmelt so sehr vor Intertextualität, Zitaten und Changieren zwischen Fakt und Fiktion, dass man sich leicht in diesem Buch verlieren, es sogar anstrengend finden kann. Zugleich liegt darin der Reiz des Werks, das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand: Autor, Erzähler und Protagonisten sind hier unentwirrbar miteinander verbunden, was nicht nur viel Raum für Ironie eröffnet, sondern auch den Leser inklusive seiner eigenen Rolle und seiner Rezeption ständig herausfordert.
Versuchen wir es also mit einem Überblick des Plots, der sich abwechselnd in zwei Zeitebenen abspielt: Im Jahr 2006 ist eine Figur namens Clemens Setz als Mathematiklehrer an der Helianau tätig. Diese Einrichtung ist eine Mischung aus Klinik, Internat und Sanatorium, wo Kinder behandelt, verwahrt und ausgebildet werden, die an einer besonderen Krankheit leiden: Das Indigo-Syndrom führt dazu, dass diese Kinder alle in ihrer Umgebung krank machen. Jeder, der sich ihnen nähert, inklusive der eigenen Eltern, hat nach wenigen Sekunden mit Übelkeit, Kopfschmerzen oder Schwindel zu kämpfen. Die Kinder selbst sind hingegen empfindungslos.
Der erste Fall wurde 1993 beobachtet, seitdem ist in Österreich und anderswo eine passende Infrastruktur zum Umgang mit Indigo-Kindern entstanden, samt Selbsthilfegruppen, Interessenvertretung und eben Einrichtungen wie der Helianau in der nördlichen Steiermark. Dort beobachtet Setz immer wieder seltsame Rituale und das Verschwinden von Schülern. Als der Mathematiklehrer der Sache auf den Grund gehen will, wird er entlassen.
Im Mittelpunkt des zweiten Erzählstrangs, der im Jahr 2021 spielt, steht Robert Tätzel, selbst ein Indigo-Kind, das mittlerweile weitgehend genesen ist, und ehemaliger Schüler von Setz in der Helianau. Er entdeckt in der Zeitung eine Meldung darüber, dass sein früherer Lehrer des Mordes angeklagt war, aber gerade freigesprochen wurde. Er macht sich nun seinerseits auf die Suche nach Setz.
Geschickt spielt Setz (der Autor, nicht die Romanfigur) mit biographischen Bezügen, etwa mit der Tatsache, dass er tatsächlich Mathematik-Lehramt studiert hat. In der Kurzbiographie im Klappentext wird dazu eine Tätigkeit in der Helianau hinzufantasiert, ebenso eine angebliche Indigo-Erkrankung des Schriftstellers. Auf die gleich verwirrende Weise spielt der Österreicher im Text mit vermeintlichen Fakten. Das Buch gleicht einem Mosaik oder mehr noch: einer Arbeitsmappe mit einzelnen Blättern, in der die Protagonisten die Ergebnisse ihrer Recherchen abgelegt haben. Dazu zählen auch täuschend echt wirkende historische Quellen, die auf vermeintliche frühere Indigo-Fälle verweisen, von der Antike über das Mittelalter bis in die jüngere Vergangenheit.
Mit dieser Montagetechnik gelingt ein Mix aus Esoterik und Science Fiction, der oft schockierend, manchmal ekelhaft, aber ebenso spannend und durchaus auch witzig ist. Die Idee, dass Kinder – der Inbegriff von Unschuld, Erfüllung und Hilfsbedürftigkeit – zu einer Quelle von Krankheit werden können, die man meiden muss wie ein radioaktiv verseuchtes Gebiet oder einen hochgradig ansteckenden Organismus, bietet grandiose erzählerische und ethische Möglichkeiten, die Setz sehr geschickt ausreizt. Auch Themen wie (vermeintlich gerechtes) Töten, Ausgrenzung oder extreme Maßnahmen gegen Einzelne (Kranke) zum Schutz der Vielen (Gesunden) klingen in Indigo auf sehr kluge Weise an.
Die größte Stärke des Romans ist allerdings seine Konstruktion. Setz baut ein großes Rätsel auf, steuert dann immer wieder auf dessen Lösung zu, um im letzten Moment vor der Enthüllung ins kommunikatorische Chaos abzudriften. Die direkte Begegnung seiner Protagonisten ist dabei sein liebstes Mittel: Eine Person hat in diesen Dialogen stets das Gefühl, nun sei alles ausreichend geklärt; die andere findet sich hingegen in noch mehr Verwirrung mit noch mehr Fragen und vor allem Unbehagen als zuvor. Lücken und Sprünge, Unterbrechungen und Ablenkungen, nicht zuletzt Missverständnisse und unterschiedliche Kontexte der Wahrnehmung prägen nicht nur diese (Nicht-)Gespräche, sondern auch die Erzählstruktur dieses auf beunruhigende Weise fesselnden Romans.
Bestes Zitat: „Als damals das erste Kind geboren wurde, habe das Leben plötzlich einen Sinn bekommen, sagt Herbert Rauber (…). Und jetzt, wo ein Enkelkind, Robert, da sei, habe auch das Sterben für ihn einen Sinn bekommen. Denn was sonst sei die Aufgabe eines Großvaters oder einer Großmutter, als einem jungen Menschen vorzusterben, so ähnlich wie ein Klavierlehrer seinem Schüler ein Stück vorspielt? (…) Man zeige ihm vor, dass es das gebe, dass dies Teil jedes Lebens sei: der Zerfall in Einzelteile.“