Autor | Clemens Meyer | |
Titel | Der Untergang der Äkschn GMBH. Frankfurter Poetikvorlesungen | |
Verlag | S. Fischer | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Bewertung |
Fangen wir an mit den dramatis personae. Es gibt zwei wichtige Helden in dieser Rezension. Der eine ist Clemens Meyer. Er ist eine prägende Figur im Leipziger Stadtleben. Außerdem ist der 1977 geborene Meyer, machen wir’s kurz, der beste deutsche Schriftsteller seiner Generation, siehe Als wir träumten (2006) oder zuletzt Im Stein (2013). Im Sommersemester 2015 hielt er die Poetikvorlesungen an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, die nun in Form von Der Untergang der Äkschn GMBH erscheinen.
Die zweite Hauptfigur ist JJJ. So nenne ich ihn meistens, die Abkürzung steht für Jeansjackenjörg. Auch er ist eine prägende Figur im Leipziger Stadtleben, jedenfalls in meinem Kiez. Da spaziert er oft umher oder lehnt einfach an einem Baum/Straßenschild/Mäuerchen, immer mit einer sehr verdreckten Jeansjacke, fast immer mit einem Bier in der Hand. Die einzig bekannte Kommunikationsform von JJJ ist das Lamento: Er berichtet besonders gerne aus seiner Jugend, aus der Zeit der Wiedervereinigung, von seinen persönlichen Helden oder aber seinen Ansichten zur Tagespolitik. Man weiß nicht genau, ob er mit sich selbst spricht oder einfach alle in Hörweite an seinen Gedanken teilhaben lassen will. Auf jeden Fall spricht er meist zu laut, mit sattem Leipziger Dialekt und in einem Tonfall, der darauf schließen lässt, dass das Bier in der Hand nicht sein erstes an diesem Tag ist.
Der Sound von JJJ ist ein in seinem Mäandern und seiner Hartnäckigkeit fast philosophisch wirkendes Lallen. Wenn es blöd läuft, ist er ein wenig aggressiv und auf Krawall aus, er kann sich aber auch fast einer Trance nähern, wenn er sich am Fluss der eigenen Gedanken berauscht. Es kommt auch gar nicht so selten vor, dass einer seiner Gedanken witzig ist – JJJ bewegt sich irgendwo zwischen Prophetie und Delirium.
Ich weiß nicht, ob Clemens Meyer und JJJ sich kennen, Letzterer verirrt sich wahrscheinlich selten in den äußersten Osten von Leipzig, wo Ersterer zuhause ist. Aber ihr Sound ähnelt sich in Der Untergang der Äkschn GMBH auf erstaunliche Weise. Das Buch ist wild, spontan und ungeordnet. Clemens Meyer lässt Hochkultur auf Triviales treffen, ist mal vulgär, mal absurd, mal platt. Er erlaubt sich Kalauer und macht sehr deutlich, auch das erscheint mir als eine Parallele zum Jeansjackenjörg, dass in seinem Werk die Qual ein wichtiges Element ist, auch für den Autor selbst. Mit anderen Worten: Das Buch ist ein wunderbares Abenteuer.
Am Beginn steht ein ein Stakkato von vielen Fragen rund um das Thema „Wer oder was ist die ÄKSCHN GMBH?“ Das erscheint zunächst, als habe Clemens Meyer in erster Linie im Sinn, wie eine Nervensäge zu wirken. Später wird klar: Er steckt hier den Rahmen ab, innerhalb dessen er sich im weiteren Verlauf des Buches bewegt. Die Verehrung für seine Helden aus Literatur und Film spielt eine große Rolle, als Leitmotive werden die NSU, Softpornos, DDR-Literatur und Parzival erkennbar, als neues Stilmittel hat er offensichtlich englische Satzfetzen entdeckt.
Meyer erweist sich dabei im gleichen Maße als Experte und Fan und gibt somit, trotz der anarchischen Form, durchaus lohnende Einblicke in seine Arbeitsweise und sein Selbstverständnis, wie man das von einer Poetikvorlesung erwarten sollte. Sein Lektürepensum ist offensichtlich genauso groß wie seine Leidenschaft und das wichtigste Thema von Der Untergang der Äkschn GMBH ist der Versuch, den eigenen Ort in dieser Ahnenreihe zu bestimmen. „Mein Hemingway war pure Musik, war das UND, das er wie die Synkopen Johann Sebastian Bachs nutzen wollte, mein Hemingway war Komposition, war fließender Stil, war Elegie, war Musik“, schwärmt er beispielsweise an einer Stelle, und die dabei gepriesenen Qualitäten kann man auch als Selbstbeschreibung seines eigenen Stils verstehen. Später wird Hemingway mit Faulkner verglichen, auch das wirkt wie eine Folie, durch die das eigene Schaffen betrachtet wird. „In seiner Kryptik und Verweigerung von Klarheit war es (gemeint ist Faulkners Eine Legende) etwas ganz anderes als mein Papa Hem. (…) Tief beeindruckte mich dieses Graben in der Sprache, dieses mythologische Erzählen, auf jeder Seite fragte ich mich, WO SIND WIR? Und verstand doch alles im langsamen SCHÜRFEN.“ So funktioniert auch dieser Text, ja sein Schreiben insgesamt.
Man kann dieses „Schürfen“ auch als Heranpirschen an die passende Formulierung, als Herumtänzeln um den treffenden Begriff begreifen, und Meyer macht diesen Prozess hier mehr denn je sichtbar. Zu seiner Literatur gehört nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Suche als der Weg dahin. „Die Fragen haben mich immer mehr interessiert als die Antworten. Das Schweben im Raum, die Leerstellen, die Geheimnisse, die magischen Spiegel, die niemals Antwort geben, sondern alles immer mehr verzerren“, schreibt er.
Die Voraussetzung für dieses assoziative Schreiben, diesen Stream of Consciousness, ist Wissen. Genauer gesagt: Erinnerung, Erfahrung, Erleben. Man erkennt sehr schnell, dass diese Elemente bei Clemens Meyer nicht deckungsgleich sind. Es geht ihm nicht um Dinge, die faktisch korrekt oder gar überprüfbar sind. Nicht um das, was abgespeichert ist in den Weiten der „Netze der Information, die uns alle zerreißen“, wie es an einer Stelle heißt. Sondern darum, wie sie in uns abgespeichert sind. Gerade in der Differenz steckt die Kraft des Persönlichen, eine Gewichtung und Identifikation, die wiederum auf dem Fundus an Erfahrungen und Assoziationen beruht. „Manchmal taucht aus diesen Trümmern etwas auf, verwächst mit anderem, verfälscht sich und wird dadurch interessant“, beschreibt Meyer diesen Effekt, in dem auch aus Missverstandenem, Verdrängtem, Verzerrtem, falsch Zugeordnetem ein wert- und kraftvoller Gedanke erwachsen kann.
Aus dieser Vorliebe spricht nicht nur seine hier immer wieder artikulierte Abneigung gegen das Internet (vor allem gegen die Effekte, die es hat). Sie passt auch bestens zu seinem Spiel mit Cut-Up-Techniken. Sein Schreiben wirkt wie Improvisation, dabei allerdings niemals provisorisch. Stattdessen gibt es einen klaren, harten Sound, mit viel Lust auf Provokation und voller Referenzen. Wer oder was könnte also mit der GMBH gemeint sein? Verschiedene Kandidaten scheinen sich aufzudrängen: Der Genius? Die Inspiration? Jeder spontane Gedanke, jede flüchtige Faszination, die zum Ausgangspunkt eines Kunstwerks werden kann? Die wahrscheinlichste Interpretation lautet: Die ÄKSCHN GMBH ist das gesamte Oeuvre der Literaturgeschichte – und Clemens Meyer hat in dieser GMBH offensichtlich erkannt, dass das Archiv keineswegs der schlechteste Ausgangspunkt ist, wenn man es eines Tages in die Geschäftsführung schaffen möchte.
Bestes Zitat: „Die GmbH weiß um ihr Scheitern. Die Ästhetik des Untergangs ist ihr lieber als die wohlfeile Ästhetik des Risikolosen.“