Autor | Clemens Meyer | |
Titel | Die stillen Trabanten | |
Verlag | S. Fischer | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
Höchstwahrscheinlich ist Clemens Meyer nicht der einzige Autor der Welt, der ungerne missverstanden wird. Aber er ist vielleicht einer derjenigen, die am intensivsten versuchen, falsche Fakten, blödsinnige Interpretationen oder fehlgeleitete Schlussfolgerungen wieder gerade zu rücken. Wenn der 1977 geborene Schriftsteller aus Leipzig in Interviews seine Themen und seine Arbeitsweise erklärt, gerät er dabei gerne einmal ins Prinzipielle, legt seine Ansichten über gute und schlechte Literatur, funktionierende und nicht funktionierende Erzählstrategien, tatsächliche Vorbilder oder nur vermeintlich Geistesverwandte dar.
Vielleicht ist es somit eine Vorsichtsmaßnahme, dass Clemens Meyer schon auf dem Klappentext von Die stillen Trabanten, seinem (bei großzügiger Interpretation dieses Genrebegriffs) dritten Band mit Erzählungen nach Die Nacht, die Lichter (2008) und Gewalten (2010), so etwas wie eine Gebrauchsanweisung für das Buch mitliefert. „Man muss behutsam und langsam durch diese Geschichten gehen, die Räume ausloten und ganz langsam schauen, Atem holen, dem Rhythmus folgen, die Personen berühren, schieben, sich in sie verlieben und sie wieder gehen lassen“, schreibt er da. „Dann ist plötzlich Glas unter den Füßen, und man weiß, es muss auch was zerschlagen werden.“
Nicht ganz verwunderlich wäre es, wenn diese – übrigens sehr zutreffende – Empfehlung besonders an alle gerichtet ist, die in Clemens Meyer nach wie vor einen Autor sehen, dessen Fähigkeiten sich darauf beschränken, Geschichten aus Ostdeutschland zu erzählen, vor allem aus den sogenannten bildungsfernen Schichten und aus den jetzt auch schon mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Zeiten des Umbruchs.
Oberflächlich betrachtet könnte man für diese Perspektive auch in Die stillen Trabanten eine Bestätigung finden. Die Figuren in den insgesamt zwölf Erzählungen kommen oft aus dem Prekariat oder jedenfalls wenig glamourösen Berufsgruppen: Lokführer, Putzfrauen, Friseurinnen, Kurierdienstmitarbeiter, Imbissbetreiber und Wehrpflichtige gehören beispielsweise dazu. Auch die alten Themen finden sich gelegentlich, etwa in Die Rückkehr der Argonauten mit Erinnerungen an die wilden Wendezeiten in Leipzig. Ein Mann kehrt darin ins Viertel zurück, in dem er aufgewachsen ist, bereits ahnend, dass weder die Kneipen noch die Freunde noch so sind, wie sie einst waren. In Unterm Eis lässt Clemens Meyer wieder seiner Faszination für den Pferdesport freien Lauf; ebenfalls ein Sujet, das man bereits von ihm kennt. Auch vertraute Stilelemente (etwa das Verschwimmen von Gegenwart und Erinnerung, das er in der Titelgeschichte auch explizit macht, wenn er am Ende schreibt: „Was ist schon gegenwärtig? Gegenwärtigkeit ist eine Legende und ein vollkommen falscher Begriff, wir befinden uns immer woanders.“) oder abgekürzte Vornamen lassen sich hier erneut finden.
Aber Die stillen Trabanten beweist, dass Clemens Meyer über ein viel größeres Spektrum verfügt, und zwar thematisch ebenso wie erzählerisch, als die enge Schublade mit dem Etikett „raubeiniger Ost-Literat“ hergibt. Gerade Die Rückkehr der Argonauten, mit seinem nostalgischen Blick auf den Leipziger Osten der sehr frühen 1990er Jahre, der schon den Debütroman Als wir träumten geprägt hatte, ist dafür ein prägnantes Beispiel. Meyer gelingt es nicht nur, Abwesende (Personen) und Abwesendes (Gebäude, Erinnerungen, letztlich eine Ära in der Biographie des Ich-Erzählers) wieder an Ort und Stelle zu bringen. Er verknüpft seine Erzählung einer wilden Jugend auch mit antiker Mythologie und einem sehr scharfen Blick für Strukturwandel, der nicht nur im Straßenbild, sondern auch in Mentalitäten seine Spuren hinterlassen hat.
„Es war eine alte Welt, die langsam verschwand und deren Bewohner mit ihr verschwanden“, schreibt er an einer Stelle. „Das Kohlenviertel mit all seinen seltsamen Menschen, Sagen- und Märchengestalten gleich… Berühmte Trinker, die immer dünner und klappriger wurden wie dieser Phineus, von dem M. uns erzählt hatte, ein magerer Greis auf einer Insel, von den Göttern gestraft, und die am Ende nur noch Pfeffi trinken konnten und die sich im Suff schlimme Dinge antaten, Kohlenhändler, die mit nichts mehr handeln konnten, weil die Öfen nicht mehr brannten, verblichene Tätowierungen auf alter Haut, alte Mütterchen, die auf verblichenen Kisten lehnten, den ganzen Tag aus dem Fenster schauten, Kinder, die wie ihre Väter in den Kneipen lebten und nachts in den Hinterhöfen saßen, auf den Bordsteinen saßen und tranken, auszogen und wieder einzogen, der Tod ging um auf unseren Hinterhöfen, in unseren Häusern.“
Diese Fähigkeit findet sich auch in den weiteren Erzählungen, die einen erstaunlich weiten Bogen an Themen umspannen: Ein Security-Mann, der ein Flüchtlingswohnheim bewachen soll und dabei eine Romanze erlebt. Ein Mittdreißiger, der paranoid wird, nachdem in seine Wohnung eingebrochen wurde. Ein alter Mann, der einem Urlauber in Warnemünde von seiner persönlichen Tragödie am Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt. Eine Zufallsbegegnung in einem Bahnhofslokal, aus der (vielleicht) die lebenslange Freundschaft zweier einsamer Frauen erwächst. Ein deutscher Kommunist, der im Exil in der Sowjetunion das Heranrücken der Wehrmacht miterlebt und (nicht nur deshalb) am Sieg seiner Ideale zweifelt.
„Die stillen Trabanten zeigen einmal mehr, welche Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten ihm auf begrenztem Raum zur Verfügung steht“, hat die Süddeutsche sehr treffend über dieses Buch geschrieben. Clemens Meyer nutzt diese Bandbreite, um seine eingangs erwähnte Vorliebe für das Prinzipielle auf denkbar beste Weise auszuleben. Denn seine Erzählungen leisten das, was alle große Literatur leisten sollte: Sie begeben sich auf die Suche nach dem Grundsätzlichen, das sich im Besonderen findet.
Bestes Zitat: „Schatten lagen über diesen Hinterhöfen, auf denen ich sie vor vielen Jahren getroffen hatte, und als ich jetzt zu ihnen zurückkehrte, begriff ich, dass als das schon lange verschwunden war und doch immer da sein würde.“