Autor | Daniel Kehlmann | |
Titel | F | |
Verlag | Rowohlt | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
Rechnet man das eher experimentelle Ruhm (laut Untertitel ein Roman, aber wohl eher eine Sammlung von Erzählungen) nicht mit, dann ist dies der erste Roman von Daniel Kehlmann seit dem Riesenerfolg Die Vermessung der Welt. Dieses Buch war im Jahr 2006 das zweitmeistverkaufte literarische Werk der Welt. Die Geschichte wurde in 46 Sprachen übersetzt, drei Millionen Exemplare gingen allein in Deutschland über die Theke.
Der Nachfolger ist ein Buch voller Rätsel, und das erste davon findet sich bereits auf dem Einband: F hat Kehlmann sein Werk genannt. Wofür mag das stehen?
Der Roman erzählt die Geschichte von Arthur, einem unmotivierten Schriftsteller, der vom Geld seiner Frau lebt, und seinen drei Söhnen Martin, Eric und Iwan. Arthur erträgt seine Kinder eher, als dass er sie liebt. Nachdem er mit seinen Söhnen eine Hypnoseshow besucht hat, verschwindet er ohne Ankündigung aus ihrem Leben, beschließt, sich ganz auf sein literarisches Schaffen zu konzentrieren, und wird tatsächlich zum gefeierten Autor.
Die Söhne werden ohne ihren Vater erwachsen, und sie alle leben eine Lüge. An dem Sommertag im Jahr 2008, an dem ein großer Teil der Handlung spielt, ist aus Martin ein katholischer Priester geworden, der nie an Gott geglaubt hat. Eric hat als Finanzberater das gesamte Vermögen seiner Kunden in den Sand gesetzt und Iwan ist ein gewiefter Kunstfälscher.
Kehlmann stellt seine Figuren mit einem Einfühlungsvermögen vor, das Gänsehaut bereiten kann, und in einer Sprache, die manchmal beinahe blendet vor lauter Brillanz. Die Figuren werden in der Reihenfolge ihres Alters betrachtet, insgesamt umspannt der Roman drei Generationen, wobei die Brüder aus der Ich-Perspektive erzählen, im ersten und letzten Kapitel des Buchs hingegen ein auktorialer Erzähler am Werk ist. Dazu kommt eine spukige, flirrende Atmosphäre, in der immer wieder Geister, Gespenster und Einflüsterer auftauchen. F wird so zu einem Roman, den man an einem Stück verschlingen kann, in dem man aber auch gelegentlich zurückblättern möchte zum Staunen und Nachvollziehen, wie es der Autor geschafft hat, das kaum Nachvollziehbare nachvollziehbar wirken zu lassen, Zitate einzubauen oder Andeutungen, deren Wichtigkeit sich erst viel später offenbart.
Doch wofür steht dieses verflixte F? Man kann nach der Lektüre ein paar gut begründete Vermutungen anstellen. Arthur und seine drei Söhne heißen mit Nachnamen Friedland. F ist zudem die Hauptfigur in Mein Name sei Niemand, einem der Bücher, mit denen Arthur nach dem Abschied von seiner Familie zu Ruhm gelangt ist. Auf dieses Buch im Buch geht Kehlmann recht ausführlich ein. „Doch einem ist, als bedeute kein Satz einfach sich selbst, als beobachte die Geschichte ihren eigenen Fortgang und als stehe in Wahrheit gar nicht die Hauptfigur im Zentrum, sondern der Leser, der all dem so bereitwillig folgt“, heißt es – selbstredend gilt dieser Effekt auch für Kehlmanns Roman.
Auch vom Fatum, also dem Zufall oder Schicksal, als „dem großen F“ ist im Buch die Rede, und natürlich ist die Familie ebenfalls ein nahe liegender Kandidat. Noch plausibler erscheinen aber zwei andere Fs: Fiktion und Freiheit. Das Zusammenspiel von beidem steht im Zentrum dieses Romans. Zur Fiktion wird hier beinahe alles: die familiäre Bande, der Glaube, das Geschehen auf den Finanzmärkten, sogar das Selbst. Im Buch von Arthur wird behauptet, dass es gar nicht existiert, und im Leben der drei Brüder ist es nichts anderes als eine Inszenierung.
Sie alle erreichen das Ziel nicht, das eigentlich mit ihrer Profession verbunden ist: Martin wird kein frommer Seelsorger, Eric vernichtet Vermögen und Iwan malt bloß Bilder, die kein Mensch als seine erkennt. Aber sie alle finden das gar nicht schlimm. Ihre Enttäuschung hat nichts mit unerfülltem Ehrgeiz zu tun. Sie ist einfach so vorhanden, eine Leere, für die sich kein Grund finden lässt. „Das Leben ist schnell vorbei. Noch schneller verschwendet“, heißt es an einer Stelle in F, und es ist allen Figuren schmerzhaft bewusst, ohne dass sie eine Strategie hätten, wie sich darauf sinnvoll reagieren lässt.
Der Versuch, bei den Mitmenschen Trost oder gar Sinn zu finden, führt in F immer wieder zu tragikomischen Momenten. Oft misslingen die Dialoge, weil ein Partner die emotionale oder gar philosophische Ebene ansprechen will, der andere aber auf einer oberflächlichen, banalen Ebene bleibt. Manchmal tauschen die Figuren dann mitten im Gespräch die Rollen – und die Kommunikation scheitert erneut.
Auch Erinnerung, Bewusstsein, Ruhm und Authentizität, sogar die Liebe und die Kunst werden von Kehlmann nicht nur auf ihre Tragfähigkeit, sondern auf ihre Existenz abgeklopft. Er stellt alles in Frage, nur nicht den Geist (und dessen Fähigkeit, alles infrage zu stellen). Es ist einzig und allein diese Freiheit des Geistes, die in F Wert und Bestand hat. Konsequent verfolgt kann sie Freiheit des Lebens bedeuten, wie Arthur sagt: „Man kann leben, ohne ein Leben zu haben. Ohne Verstrickungen. Das macht vielleicht nicht glücklich, aber es macht leicht.“ Die Freiheit erlaubt es uns absurderweise aber auch, dem Pflichtgefühl zu folgen, dem Kompromiss, der Konformität oder dem Selbstbetrug, und auf diese Weise das Glück zu suchen. Dieses Paradox ist es, was alle Figuren in F martert: Wer nicht frei ist, kann kaum glücklich sein. Andererseits ist selbst im Moment des größten Glücks die Freiheit des Geistes intakt – hinter der nächsten Ecke wartet also wieder der Zweifel.
Bestes Zitat: «Alles vergeht, aber das heißt noch lange nicht, dass es Glück nicht gibt. Glück ist sogar die Hauptsache. Es kommt auf die Momente an, die guten Momente.»