Dave Eggers – „Der Circle“

Autor Dave Eggers

Eine allmächtige Internet-Firma steht im Zentrum des neuen Romans von Dave Eggers.
Eine allmächtige Internet-Firma steht im Zentrum des neuen Romans von Dave Eggers.
Titel Der Circle
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Erscheinungsjahr 2014
Bewertung

21 Milliarden Dollar. So hoch war, wenn man nur den Ausgabepreis betrachtet, der Wert des chinesischen Internet-Riesen Alibaba beim gestrigen Börsengang. Man kann davon ausgehen, dass US-Autor Dave Eggers, vielfach ausgezeichnet für Romane wie Zeitoun, keine Aktien gekauft hat. Die Dimension des Erlöses dürfte ihn trotzdem sehr interessiert haben. Denn Alibaba ist auf dem chinesischen Markt so etwas wie die Kombination aus Amazon, Ebay und Paypal. Würde man zu solch einem Unternehmen auch noch die Funktionen von Google und Facebook dazu packen, käme etwas heraus wie der Circle – eine Firma, die alles im Netz aus einer Hand anbietet. Genau um ein solches Unternehmen geht es in seinem neuen Buch, das von der FAZ bereits als „der Roman unserer Epoche“, von Zeit Online als „Das 1984 fürs Internetzeitalter“ und von Juli Zeh als „ein großer aufklärerischer Akt“ gepriesen wurde.

Der Circle ist in dieser (wohl nicht allzu weit) entfernten Zukunft die Rundum-Glücklich-Online-Lösung, die die wichtigste Firma der Welt, zugleich soziales Netzwerk, Shop und Bezahlsystem. Mae Holland, die 24-jährige Hauptfigur des Romans, tritt zu Beginn des Buchs ihren Dienst in der Firmenzentrale in Kalifornien an. Zu verdanken hat sie die Stelle in erster Linie ihrer alten Freundin Annie, ihrer Mitbewohnerin aus Studentenzeiten, die mittlerweile ein hohes Tier beim Circle ist.

Mae kann ihr Glück kaum fassen, denn die Arbeitsbedingungen sind traumhaft, die Kollegen eine verschworene Gemeinschaft und die Aufgaben spannend. Das Firmengelände des Circle bietet alle denkbaren Annehmlichkeiten, von originellen Partys über moderne Sportanlagen und exklusive Shopping-Möglichkeiten bis hin zum abwechslungsreichen Kulturprogramm. „Ein paar Tausend Circler versammelten sich in der Dämmerung, und als sie da so zwischen ihnen stand, wusste Mae, dass sie niemals wieder woanders sein wollte“, stellt sie schon nach ein paar Tagen in ihrem neuen Job fest. „Ihre Heimatstadt und der Rest von Kalifornien, der Rest von Amerika kamen ihr vor wie das heillose Chaos in einem Entwicklungsland. Außerhalb der Circle-Mauern gab es bloß Lärm und Kampf, Versagen und Dreck. Hier dagegen war alles vollkommen.“

Maximale Transparenz und permanente Kommunikation sind die wichtigsten Prinzipien beim Circle. Die Arbeitsplätze sind (nicht nur in architektonischer Hinsicht) gläsern, die Produktpalette reicht von kabellosen Mini-Webcams über Werkzeuge zum Aufspüren des eigenen Familienstammbaums bis zu Chips, die man seinen Kindern implantieren kann, um sie jederzeit auffindbar zu machen und so vor Entführungen zu schützen. Zu jedem neuen Produkt gibt es knackige Slogans, die auch als Inschriften auf dem Firmengelände omnipräsent sind: „Alles, was passiert, muss bekannt sein.“ „Geheimnisse sind Lügen.“ „Alles Private ist Diebstahl.“

Allerdings eckt Mae immer wieder mit diesen Prinzipien des Circle an. So sehr sie diese Firma und ihre Philosophie liebt – in einigen Aspekten ist sie eine Vertreterin des „alten“, nicht vollständig durchleuchteten und nicht komplett nach außen gerichteten Lebens. Wegen dieser Diskrepanz wird sie immer wieder moralisch geprüft, von alten Freunden, ihren Eltern, ihren eigenen Gewohnheiten. Doch statt die Kultur des Circle zu hinterfragen, erkennt sie darin allenfalls einen Anlass zur Selbstgeißelung und den Auftrag, sich noch besser in die Firma zu integrieren.

Das gilt selbst dann noch, als sie sich in Kalden verliebt, einen mysteriösen Unbekannten, der wie ein Phantom nur dann und wann beim Circle auftaucht. Kalden warnt sie, die ominöse „Vollendung“ des Circle, die das Unternehmen anstrebt und die offenbar kurz bevorsteht, würde für die Menschheit eine Katastrophe bedeuten. Und er macht deutlich, dass Mae – nachdem sie beim Circle schnell Karriere gemacht hat – vielleicht die einzige ist, die das Unglück noch aufhalten kann.

Man ahnt schon: Der Circle ist im Hinblick auf Mae die Geschichte einer Gehirnwäsche innerhalb einer abgeschirmten Gruppe, die ein wenig an Die Welle denken lässt; nur dass die elitäre Gemeinschaft hier keine Widerstände überwinden muss, sondern problemlos die ganze Welt erreichen und sogar auf ihre Neugier und Begeisterung setzen kann. Dave Eggers bewertet in seinem Roman keine Technologien und keine Figuren, aber es braucht nicht viel Fantasie, um seinen Standpunkt zu erkennen: Der Autor ist nebenher auch Verleger (unter anderem bringt er das wunderschöne Magazin Quarterly Concern heraus), er fördert Jugendliche in der einsamen und altmodischen Kunst des Schreibens und er baut in seinem Buch immer wieder gehässige Verweise der Circle-Chefs auf die Gestrigkeit von Büchern und Papier ein, die erkennen lassen, wie sehr ihn die Geringschätzung dieses Kulturguts schmerzt.

Er rächt sich, in dem er aus dem Circle nicht nur einen Mix aus Google, Facebook, Apple und Amazon (übrigens: Es muss ein mulmiges Gefühl sein, ein Lektüreerlebnis der ganz neuen Art, dieses Buch auf dem Kindle zu lesen) macht, sondern der fiktiven Führungsriege auch einige der Spleens angedeihen lässt, in denen man die realen Bosse dieser Internet-Giganten wieder erkennen kann. Man solle sein Buch deshalb nicht so sehr als Fiktion begreifen, sondern eher als Friktion, „denn der Roman zeichnet eine Bruchstelle der Zivilisation nach“, hat Andreas Platthaus das in der FAZ umschrieben.

Der Circle ähnelt dabei in nicht geringem Maße einer Sekte: „Hier war jeder handverlesen, und somit war der Genpool außergewöhnlich, die Brainpower phänomenal. Alle waren unablässig und mit Leidenschaft bestrebt, sich selbst und andere zu verbessern, ihr Wissen zu teilen, es in der Welt zu verbreiten“, umschreibt Mae das an einer Stelle in glühendem Enthusiasmus.

Alles muss in der Welt des Circle messbar sein, überall herrschen Zahlen, Sensoren und Algorithmen. Aus der Möglichkeit zur Selbstoptimierung wird somit, nicht nur für Mae, sondern für alle Angestellten und letztlich alle Mitglieder des Circle, der Zwang zur Selbstoptimierung. Zugleich macht Eggers anhand seiner Hauptfigur deutlich, wie schnell unsere Aufmerksamkeit überfordert ist, wenn permanente Interaktion verlangt wird, die nicht zuletzt aufgrund der weitgehenden Banalität der meisten Nachrichten, Fotos und Diskussionen in sozialen Netzwerken fragwürdig ist. Mae ertrinkt – wie viele von uns – in einer Informationsflut, die als ungeheuer dringlich markiert ist, aber bei genauerem Hinsehen auch dann noch meist irrelevant bleibt, wenn sie von noch so vielen Filtern und Algorithmen auf unsere angeblichen Interessen abgestimmt ist.

Als an Maes Arbeitsplatz der dritte Monitor installiert wird (es wird nicht der letzte bleiben), heißt es: „Bevor sie den dritten Bildschirm bekam, hatte es zwischen der Beantwortung einer Frage und der Kundenreaktion (…) immer mal eine Pause von etwa zehn oder zwölf Sekunden gegeben. (…) Jetzt jedoch wurde das alles schwieriger. Der Feed auf dem dritten Bildschirm brachte alle paar Minuten vierzig neue InnerCircle-Nachrichten, an die fünfzehn OuterCircle-Posts und Zings, und Mae nutzte jede freie Sekunde, um rasch alles durchzuscrollen, sich zu vergewissern, dass nichts dabei war, was ihre sofortige Aufmerksamkeit verlangte, um sich dann wieder ihrem Hauptbildschirm zu widmen.“

Noch spannender sind die Effekte, die Eggers auf gesellschaftlicher Ebene prognostiziert. Manchmal könnte er literarisch etwas filigraner sein; beispielsweise in Ein Hologramm für den König ist es ihm zuletzt deutlich eleganter gelungen, verschiedene Dimension einer hoch aktuellen Problematik über immer neue Figuren in die Handlung zu integrieren. Trotzdem ist Der Circle eine enorm wichtige Reflexion, ein sehr spannender Roman und eine Zukunftsvision, die gerade deshalb so schockierend ist, weil sie so plausibel wirkt. Sein Buch ist „Science-Fiction, die umso beklemmender ist, als die Zukunft, in der sie spielt, schon in Sichtweite ist“, hat die Süddeutsche Zeitung treffend attestiert.

Ein Beispiel dafür ist das Bewerten von allem und jedem, und zwar spontan, bequem und sichtbar für alle. Es wirkt gleichzeitig lächerlich, wenn man meint, mit einem „Gefällt mir“ (im Circle heißt das Gegenstück „Smile“) könne man irgendwo auf der Welt oder für irgendeinen Menschen wirklich etwas bewirken. Zugleich ist es beängstigend, wie sehr dieser Glaube die Welt schon verändert hat – vom Arabischen Frühling über Teenager, die sich wegen Cybermobbings das Leben nehmen, bis hin zur Tatsache, das mittlerweile sogar der Papst twittert.

Der Circle denkt solche Entwicklungen ebenso wie die freiwillige Aufgabe der Privatsphäre oder Trends wie die „Quantified Self“-Bewegung weiter. Dave Eggers lässt so eine Welt entstehen, in der es keinen Schutz mehr gibt, kein Abschalten, keinen Moment, in dem nicht kommuniziert oder konsumiert wird – wobei in Zeiten, in denen persönliche Daten ein begehrter Rohstoff sind, „konsumieren“ und „kommunizieren“  immer weniger zu trennen sind, immer mehr zur selben Tätigkeit verschmelzen, wie dieses Buch zeigt.

Höchst geschickt – und, das sollte erwähnt sein: höchst überfällig – weist Eggers darauf hin, dass die Gefahr dieser Dynamik keineswegs bloß im Verschwinden der Privatsphäre liegt, sondern vor allem in der Zusammenführung (auch hier lässt Die Welle grüßen) mit Mechanismen der sozialen Kontrolle. Das Monströse an den Ideen des Circle ist die Kombination aus der Technologie zur Überwachung und dem Dogma der Political Correctness.

„Mae, wir wären endlich gezwungen, bessere Menschen zu sein. Und ich glaube, die Menschen wären erleichtert. Es würde einen gewaltigen globalen Stoßseufzer der Erleichterung geben. Endlich, endlich konnten wir gut sein. In einer Welt, in der schlechte Entscheidungen keine Option mehr sind, haben wir keine andere Wahl, als gut zu sein“, erklärt Eamon Bailey, einer der drei obersten Chef der Firma, in einem Gespräch mit Mae seine Vision von der „Vollendung“ des Circle. Wenig später führt er aus: „Ich bin ehrlich überzeugt, wenn wir keinen anderen Weg haben als den richtigen Weg, den besten Weg, dann bedeutet das eine Art von ultimativer, allumfassender Erleichterung. Wir müssen nicht mehr durch Dunkelheit in Versuchung geführt werden. Verzeihen Sie, wenn ich es mit moralischen Begriffen ausdrücke. Da kommt der Kirchgänger in mir zum Vorschein. Aber ich bin von der Fähigkeit des Menschen zur Vollkommenheit überzeugt. Ich glaube, wir können besser sein. Ich glaube, wir können perfekt oder nahezu perfekt sein. Und wenn wir unser bestes Selbst werden, sind die Möglichkeiten endlos. Wir können jede Krankheit heilen, den Hunger besiegen, alles, weil wir uns nicht mehr von unseren Schwächen behindern lassen, von unseren trivialen Geheimnissen, unserem Horten von Informationen und Wissen. Wir werden endlich unser Potenzial erkennen.“

Eggers schafft es wunderbar, diesen Wunsch verführerisch erscheinen zu lassen, aber niemals erstrebenswert. Seine Mahnung ist vielmehr: Wenn alle versuchen, ihre Individualität zu inszenieren, dies im Rahmen von Political Correctness geschieht und sich dabei alle gegenseitig überwachen, dann wird aus der Individualität nichts anderes als Konformismus. Wenn alles offen sein muss und es kein Ausbrechen aus diesem System gibt, dann wird aus der Transparenz zwangsläufig Totalitarismus. Aus dieser Argumentation erwächst das eindrucksvolle Plädoyer von Der Circle: Was uns ausmacht, als Personen, aber auch als Menschheit insgesamt, sind vor allem auch Fehler, Schwächen, Peinlichkeiten und Sünden. Wir sind manchmal eben unvernünftig, egoistisch, faul. Und genau deshalb möchten wir manche Dinge gerne für uns behalten.

Der Roman zeigt auch: Wir sollten die Herrschaft über ein so mächtiges und allgegenwärtiges Instrument wie das Internet nicht einer Nation wie den USA überlassen, die so bigott, so besessen von Political Correctness, so überzeugt von der Allheilkraft des Marktes und so anfällig für grenzenlosen Optimismus ist. Es ist dieser Mix aus Expansionsdrang, Sendungsbewusstsein und Zwangsbeglückung, der die Dynamiken des Circle so beängstigend macht und der sie manchmal wie Unvermeidlichkeit wirken lässt.

Bestes Zitat: „Die besten Leute hatten die besten Systeme gemacht, und die besten Systeme hatten Geldmittel eingebracht, unbegrenzte Geldmittel, die das alles hier möglich machten: den allerbesten Arbeitsplatz. Und es war ganz logisch, das dem so war, dachte Mae. Wer könnte Utopia bauen, wenn nicht Utopisten?“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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