Autor | David B. Agus |
Titel | Leben ohne Krankheit |
Verlag | Piper |
Erscheinungsjahr | 2012 |
Bewertung |
Im Februar ist Leben ohne Krankheit von David B. Agus in der deutschen Übersetzung erschienen. Heute, knapp vier Monate später, rangiert das Buch noch immer unter den Top20 der Spiegel-Bestsellerliste. Das ist kein Wunder. Der Autor, einer der renommiertesten Krebsärzte Amerikas, verspricht zum einen die Erfüllung eines jahrhundertealten Traums: den Sieg über körperlichen Verfall, Siechtum und Schmerz. Und er ist zum anderen ein perfekter Verkäufer.
Diese Kombination macht Leben ohne Krankheit, zumal für deutsche Leser, zu einem sehr ungewöhnlichen Buch. Es ist zum einen Ratgeber, zum anderen Bestandsaufnahme aktueller Entwicklungen in der Medizin und nicht zuletzt die Prophezeiung einer goldenen Zukunft. Das sorgt für eine Lektüre, die gelegentlich zu Kopfschütteln, Zweifel und Widerspruch anregt, aber auch sehr unterhaltsam, inspirierend und nicht zuletzt anschaulich ist.
Das Buch bietet viele praktische Tipps für das persönliche Wohlbefinden, die ohne viel Aufwand umzusetzen sind: Sport und ein regelmäßiger Tagesablauf gehören zu den wichtigsten Empfehlungen. Wertvoll sind auch die Hinweise auf Methoden und Hilfsmittel, die nichts bringen oder sogar schädlich für die Gesundheit sind. „Ein Multivitaminpräparat ist genauso wenig eine Versicherungspolice wie eine Heiratsurkunde eine Garantie für eine glückliche Ehe ist“, schreibt Agus beispielsweise.
Dass er nicht nur von der Forschung berichtet, sondern auch von seiner eigenen Erfahrung als Arzt, ist eine der großen Stärken des Buchs. Er schildert Fälle aus seiner Praxis, liefert Anekdoten und Beispiele. Und er macht sofort klar, dass der Frust für ihn die entscheidende Motivation war, dieses Buch zu schreiben. Er beklagt die geringen Fortschritte in der Onkologie und die Ohnmacht, wenn ihm immer wieder Patienten unter der Hand wegsterben, ohne dass er etwas auszurichten vermag. Das Wehklagen über den Stillstand ist zwar etwas zweifelhaft, denn Agus blendet einige Innovationen in der Krebsmedizin aus, die es durchaus gab und gibt. Aber es ist nachvollziehbar, dass er sich nach mehr Tempo sehnt, nach einem echten Durchbruch.
Sein Ansatz, um dieses Ziel (und letztlich das Leben ohne Krankheit) zu erreichen, lautet in erster Linie: Prävention. Es ist sein bestes Argument: Vorsorge ist billiger, beeinträchtigt die Patienten weniger und ist oft erfolgreicher als eine Therapie – darauf weisen viele Ärzte längst hin, ohne dass sich diese Erkenntnis auch im Gesundheitssystem niederschlagen würde. „Ein Gramm Vorsorge ist mehr wert als ein Pfund Heilung“, schreibt er treffend.
Große Fortschritte verspricht sich Agus dabei vom Gebiet der Proteomik, also einer systematischen Messung der Proteine im Blut, die Rückschlüsse auf Stoffwechsel, Entzündungen oder Infektionen zulässt. „Ihr Gesamtbefinden kann theoretisch zu jedem beliebigen Zeitpunkt und an jeder beliebigen Körperstelle aus einer Blutprobe durch die Untersuchung der Proteine bestimmt werden“, erklärt Agus. Er schwärmt derart von den Möglichkeiten der Methode, dass sein Buch in einigen Passagen zu einer ziemlich umfangreichen Werbebroschüre für seine Firma Applied Proteomics wird. Ein Beispiel? „In zehn oder 20 Jahren braucht Ihr Arzt vielleicht nur noch einen Tropfen Blut, um eine sich anbahnende Krankheit, selbst Krebs, bereits im Frühstadium zu erkennen. Dieses Tröpfchen enthüllt vielleicht auch, welche Erbkrankheiten Sie möglicherweise im Laufe Ihres Lebens bekommen und welche Arzneimittel, maßgeschneidert für Ihre genetische Ausstattung und Ihre persönliche Physiologie, genau die richtigen für Sie sind.“
Es sind solche Passagen, die beweisen: Agus ist nicht nur ein kritischer Geist, der offen für neue Ideen ist. Er ist auch Optimist, Enthusiast und ein sehr guter Vermarkter. Als »Rockstar of Sience« hat ihn das Männermagazin GQ einmal bezeichnet, und solch einen Ehrentitel bekommt man nicht, wenn man nicht gelegentlich auch mal tüchtig auf den Putz hauen und sich vom eigenen Sendungsbewusstsein mitreißen lassen kann.
Agus tut das, und er tut es gerne. Der Arzt schwärmt in Leben ohne Krankheit von der Verschmelzung von Medizin, Biologie und Computertechnik. Er benutzt erstaunlich viele militärische Metaphern. Und im Eifer des Gefechts stellt er sich auch schon einmal als Revoluzzer dar, sogar als Prophet, der als einziger die Wahrheit kennt und sie nun mit uns teilt. „Genau wie ich bei meiner Tätigkeit bestimmte ‚Regeln’ durchbreche, um neue Theorien über Krebs zu überprüfen, bricht auch dieses Buch ‚Regeln’, und zwar mit demselben Ziel: um Leben vielleicht zu retten“, schreibt er. „Ich ahne schon, dass ich damit (…) eine Mischung aus Neugier, Unglauben, Staunen und manchmal Wut auslösen werde, tue es aber trotzdem, und zwar aus ebenso gutem Grund: um Ihr Leben zu verlängern, und damit Sie sich in jedem einzelnen Lebensjahr besser fühlen. Was Sie hier lesen, ist, kurz gesagt, etwas anderes als in jedem anderen Gesundheitsratgeber – oder überhaupt in jedem Ratgeber. Es ist einerseits ein Manifest, andererseits aber auch ein Lebensplan.“
Seinen fast missionarischen Einsatz merkt man Agus auch bei seinem Plädoyer für die personalisierte Medizin an, die zum dritten Heilsbringer dieses Buches – neben Prävention und Proteomik – wird. Der Hinweis auf die Potenziale (mitunter sogar die Notwendigkeit) dieser Methode ist sicherlich berechtigt, dann Agus verweist immer wieder überzeugend auf die Individualität jedes Patienten, die unterschiedlichen genetischen Ausstattungen, Lebensstile, Krankheitsverläufe. Zudem betrachtet er die Gesundheit und den Körper ganzheitlich, als dynamisches System. „Krebs ist zum Beispiel nichts, was der Körper ‚hat’ oder ‚bekommt’, sondern etwas, das er tut“, betont er an einer Stelle. Daraus folgt seine These: Mediziner (und Patienten) können sich nicht auf Standardlösungen verlassen, denn dafür ist unser Organismus viel zu komplex.
Trotzdem macht Agus in Leben ohne Krankheit grundsätzliche Aussagen und gibt generelle Empfehlungen. Eigentlich hätte er für jeden Leser ein eigenes, individuell zugeschnittenes Buch schreiben müssen, wenn er seinem eigenen Ansatz hätte gerecht werden wollen. Immerhin erkennt er diesen Widerspruch: Im Vorwort zur überarbeiteten Auflage geht er auf dieses Problem ein und macht letztlich sogar einen Appell aus dem Manko: „Wenn ich dieses Buch in einem einzigen Satz zusammenfassen sollte, dann würde ich ihn so formulieren: Lernen Sie sich selbst kennen“, schreibt er.
So rät er dem Leser beispielsweise, eine persönliche Metrik für die wichtigsten Parameter seiner Gesundheit zu entwickeln und diese permanent zu kontrollieren. Der Körper soll „auf Gesundheit kalibriert“ werden. Agus geht mit gutem Beispiel voran und berichtet von seinen eigenen Erfahrungen. Er führt ein Schlaftagebuch und speichert alle seine medizinischen Daten in der Cloud.
Das Smartphone soll dabei in seiner Zukunftsvision zum Universalmessgerät werden, quasi der Generalschlüssel zum Leben ohne Krankheit. „Bald schon werden wir kleine Geräte bei uns tragen können, die uns jederzeit unsere körperlichen Dynamiken mitteilen können. Nicht, dass wir so etwas wirklich alle rund um die Uhr tragen möchten, aber sie könnten uns unglaublich dabei nützlich sein, die Werte unseres Normalzustands beizubehalten, und uns mitunter auch darauf trainieren, zu bemerken, wenn wir etwas ändern müssen.“
Dieses Szenario ist, neben dem gelegentlich ungezügelten Optimismus des Autors, die größte Schwäche des Buches. Wer permanent misst, überwacht und gegensteuert, setzt sich einem Gesundheitsterror aus, der selbst aus kerngesunden Menschen sofort Patienten macht (und umgekehrt aus denen, die doch krank werden, unfähige Vorsorgeversager). Prävention und Gesundheitsbewusstsein sind zweifelsohne wichtige Faktoren. Aber hier schlägt beides mitunter in Hysterie und Paranoia um. Für einen vernünftigen, aber entspannten Umgang mit der eigenen Gesundheit gibt es in der Welt von David B. Agus offensichtlich keinen Platz. Und er blendet noch eine wichtige Frage aus: Kann es gesund sein, wenn man ständig Angst vor Krankheit hat, also letztlich vor seinem eigenen Körper?
Bestes Zitat: „Wenn es um den komplexen menschlichen Körper geht, kann man nicht einfach etwas Bestimmtes tun, um etwas anderes zu bewirken. Die Einnahme eines Medikaments verändert das gesamte System, nicht nur den Bereich, den man damit beeinflussen möchte.“