Autor | David Cronenberg | |
Titel | Verzehrt | |
Originaltitel | Consumed | |
Verlag | S. Fischer | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
Zwei besondere Eigenschaften bringt dieser Autor mit, über die nicht allzu viele Schriftsteller bei ihrem Debütroman verfügen: Erstens ist David Cronenberg schon 71 Jahre alt. Zweitens hat er eine mehr als beeindruckende Hollywood-Karriere hinter sich.
Cronenberg hat Filme wie Die Fliege, Naked Lunch oder zuletzt Maps Of The Stars gedreht und mit Stars wie Keira Knightley, Julianne Moore und Juliette Binoche gearbeitet. Sein Verlag preist ihn als „düstersten Regisseur der Welt“ an. Und die gute Nachricht lautet: Verzehrt ist ein im höchsten Maße gelungener Roman. „Es war lange kein Cronenberg-Film mehr so gut wie dieses Buch“, lobt Daniel Sander im KulturSpiegel – man kann das unterstreichen.
Zunächst ist man in Verzehrt allerdings irritiert bis genervt ob all der penetranten Reminiszenzen an das Metier, aus dem man David Cronenberg bisher kannte. Es gibt unglaublich viele Hinweise auf Kameras, Bildschirme, Objektive, Zooms und Perspektiven. Eine Schlüsselszene des Romans spielt auf dem Filmfestival in Cannes, wiederholt gibt es auch Gedankenspiele der Protagonisten, welcher Schauspieler gut die Rolle einer bestimmten Figur in der Handlung verkörpern könnte.
Doch schon bald erkennt man, dass Cronenberg hier keineswegs auf seinen angestammten Kosmos beschränkt ist, sondern dass dieses Buch einem Füllhorn an Referenzen an Pop- ebenso wie an Hochkultur gleicht. Marken und Technologie sind wichtig, aber Cronenberg blickt auch auf das, was dahinter steckt, auf das – wie es Cristina Nord in der taz genannt hat – „verblüffende Zusammenspiel von Viszeralität und Virtualität“. Er glänzt mit schlauen Verweisen auf Literatur und Philosophie, er etabliert einen weisen, abgeklärten, polyglotten Erzähler – und diese Rolle steht ihm gut.
Nicht zuletzt begibt er sich ebenso wie in seinen Filmen auch als Buchautor auf die Suche nach den menschlichen Abgründen, nach den Grenzen unserer Moral („Ich glaube, dass man sich alles vorstellen kann. Man sollte nur nicht alles tun“, hat er einmal gesagt). Im Kern von Verzehrt geht es um einen bestialischen Mord in Paris. Célestine Arosteguy, eine der bekanntesten Intellektuellen des Landes, wurde zerstückelt und, so scheint es, vom Täter teilweise verspeist. Unter Verdacht steht ihr Mann Aristide, ebenfalls ein in Frankreich hoch angesehener Philosoph. Seit im Internet schockierende Fotos des Opfers aufgetaucht sind, ist er verschwunden.
Eine Nachbarin schildert das berüchtigte Pärchen so: „Sie waren so brillant, so aufregend. Zwischen ihnen gab es keine Eifersucht, keinen Ärger. Sie waren wie eine einzige Person. Sie war krank, verstehen Sie das nicht? Sie lag im Sterben. (…) Sie hat ihn gebeten, sie zu töten und er hat es getan. Und dann, ja, dann hat er sie natürlich gegessen.“
Naomi, eine US-Journalistin, recherchiert den Fall und tauscht sich übers Internet regelmäßig mit ihrem Freund Nathan darüber aus, der als Fotograf arbeitet und in Toronto in eine gleichermaßen befremdliche Geschichte verwickelt wird, die ebenfalls einen spektakulären Artikel abgeben könnte. Später wird daraus sogar die Idee für ein Buch, das den Arbeitstitel Verzehrt bekommt – und eine Verbindung zwischen den beiden Fällen wird deutlich.
Neben dem Kannibalismus-Verdacht sind Amputationen, Selbstverstümmelung und Geschlechtskrankheiten wichtige Motive in diesem Roman, aber Cronenberg ist nicht auf Schockeffekte aus. Sein Erzähler nähert sich diesen heiklen Sujets aus einer nüchternen, rationalen Perspektive, sogar aus einer moralischen.
Die Grenzüberschreitung erfolgt manchmal aus einem Trauma heraus, meist aber aus dem Versuch der Figuren, sich selbst, ihr Gleichgewicht, das Wesen des Humanen in uns zu finden – oder gar aus Liebe. An einer Stelle, als Célestine sich die Bilder anschaut, die ihre Mammographie ergeben haben, ist von „der Ebene, auf der das menschliche Leben tatsächlich stattfindet“ die Rede – genau das ist die Ebene, nach der Cronenberg als Autor hier sucht. Was macht unser Sein aus? Was ist der Kern der Identität? Das sind seine Leitfragen, und er kommt in diesem Roman zumindest in die Nähe einer Antwort: Philosophie ist es nicht, Sprache ist es nicht, der Körper ist es ebenfalls nicht. Aber eine winzige Chance scheint zu bestehen, dass es Technologie und Konsum sein könnten.
Bestes Zitat: „Man kann das Kino noch so sehr mögen, oder die Weltliteratur, die Klassiker – wenn man sich selbst dabei erwischt, wie man eine klassische Szene nachspielt, fühlt man sich nicht geadelt und verbunden mit der Größe des Werkes. Man fühlt sich … armselig.“