Autor | Diedrich Diederichsen | |
Titel | Über Pop-Musik | |
Verlag | Kiepenheuer & Witsch | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
Es passiert auf Seite 351. Diedrich Diederichsen, der Kultautor von Sounds und Spex, der Vordenker der deutschen Pop-Theorie, der hochoffizielle Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst, schreibt über Nirvana. Und er nennt das Lied, mit dem die Band aus Seattle 1991 die Musikwelt auf den Kopf gestellt hat, mit dem sie das vielleicht einflussreichste Stück Popkultur des vorvergangenen Jahrzehnts abgeliefert hat, Feels Like Teen Spirit. Dabei muss man wahrlich kein Kenner sein, um zu wissen, dass der Song Smells Like Teen Spirit heißt. Peinlich.
Es ist ein schlimmer Fauxpas, gleich in zweierlei Hinsicht. Zum einen macht die Lektüre der 350 Seiten davor und der gut 100, die danach noch kommen, deutlich, dass Diederichsen mit Über Pop-Musik so etwas wie das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Forschung, seines lebenslangen Grübelns über Pop vorlegen will. Wäre er ein Musiker, wäre dieses Buch das ultimative Box-Set mit dem Überblick über seine gesamte Karriere. Nicht nur der Titel macht das deutlich. Auch die Danksagung lässt erkennen, dass er das Buch auch selbst als Ergebnis, als Krönung seines Lebenswerks sieht. Nicht zwangsläufig, weil das Sujet ausreichend untersucht sei oder sich Diederichsens Forscherdrang dem Ende zuneigt, sondern weil (diese Vermutung stützt auch sein Ausblick am Ende des Buches) Pop-Musik, wie wir sie kennen und wie sie hier behandelt wird, möglicherweise am Ende ihrer Entwicklung angekommen ist.
Zum anderen wird der Patzer umso ärgerlicher, weil der Rest von Über Pop-Musik derart von Akribie der Formulierung, von Leidenschaft für das Thema und vor allem von Tiefe des Denkens und Intensität der Durchdringung strotzt. Diederichsen errichtet ein „ein lückenloses, unheimlich dichtes Theoriegebilde“, hat die Freie Presse richtig erkannt. Der Rolling Stone stellt gar fest: „Für die Zukunft des Pop ist dieses Buch der intellektuelle Schlüssel.“ Auch das ist nicht übertrieben.
Diese Pressestimmen deuten schon an: Über Pop-Musik ist kein Buch für Leute, die einfach gerne das Zeug hören, was im Radio läuft, oder sich denken „Hey, ich finde die Masche von Lady Gaga interessant“ (die ebenso nervtötende wie überbewertete Gaga taucht in diesem Buch erfreulicherweise nur zweimal auf, und zwar nicht als innovative oder zukunftsweisende Künstlerin, sondern zunächst kurz als die aktuell maximale Ausprägung des Konzepts „Star“, dann genauso kurz als Geldgeberin für bildende Kunst). Dieses Buch ist Wissenschaft. Es gibt mehr Belegstellen für Theodor Adorno als für die Beatles, auch Roland Barthes, Bertolt Brecht oder Niklas Luhmann werden gerne zitiert.
Das bedeutet auch: Diedrich Diederichsen benutzt eine Sprache, der es um Präzision geht, nicht um Unterhaltungswert. Man muss schon Sätze wie „Dennoch gibt es bei diesen Verwendungsweisen singulärer Soundobjekte in der neuen Musik sehr selten eine konventionelle musikalische Umgebung, die wie in der Pop-Musik nachdrücklich die ontische Differenz zwischen dem fremden, diskreten und – tendenziell – indexikalischen singulären Sound-Objekt und ebendieser ‚musikalischen’ Umgebung betont.“ ertragen (und verstehen) können, um aus Über Pop-Musik wirklich Mehrwert ziehen zu können.
Trotz dieser abstrakten Sprache wird in diesem Buch immer wieder auch Diederichsens emotionale Beziehung zu seinem Thema deutlich. Gleich mehrfach berichtet er aus seiner eigenen Pop-Sozialisation. Wiederholt führt er theoretisch aus, wie essenziell Unmittelbarkeit für das Wesen von Pop-Musik ist, und man erkennt, wie oft und gerne er sich auch ganz praktisch von dieser Unmittelbarkeit treffen und begeistern lässt. „Wenn [Pop-Musik] heraustritt aus der Rolle eines zufällig gefundenen Dokuments, wenn sie ein Selbst entwickelt und sich mit den Agenden von Subjekten verbindet, muss sie eine Wirklichkeit anbieten, von der sie auf so einmalige, attraktive, verführerische, fetischisierbare Weise zeugt, einen Zusammenhang, eine Welt, eine Person, eine Universum. Sie muss Zusammenhänge herstellen. Irgendetwas. Ein Versprechen erfüllen“, schreibt er beispielsweise und beweist auch mit vielen anderen Passagen: Er ist nicht nur Kenner, sondern auch Fan.
Folgt man seiner Argumentation, wäre etwas anderes auch gar nicht möglich, wenn man Pop-Musik als Konzept und kultureller Faktor wirklich verstehen möchte. Es gehört zum Wesen des Versprechens, dass es einen Rezipienten braucht, der auf die Einlösung des Versprechens hofft, und die aktive Rolle des Publikums für das Funktionieren und die Wirkungsmacht von Pop-Musik stellt Diederichsen in diesem Buch immer wieder heraus. „Wer technisch aufgezeichnete Musik hört, hört keine Musik mehr, sondern hört sein eigenes früheres Hören. Das eigene Hören wiederhören: Das ist Pop-Musik“, fasst er zusammen und führt an anderer Stelle aus: „Weil sie Welt enthält, zugleich technisch und künstlerisch objektive Spuren einer phonographischen Singularität, geben wir der Pop-Schallplatte unsere Welt hinzu, unsere psychologische Singularität. Diese ist nun nicht nur nicht mehr allein, sondern geradezu objektiviert: Wir haben einen objektiven Aufbewahrungsort, eine Adresse, ein Schließfach gefunden. Wir sind begeistert, dass andere dasselbe Schließfach benutzen. Wir gründen mit ihnen eine Bewegung.“
Dieser Effekt geht seiner Ansicht nach weit über die rein akustische Wahrnehmung hinaus. Mode, Posen, Videoclips – all das ist für ihn nicht Beiwerk, sondern entscheidender Bestandteil von Pop. Plattencover, Konzertfotos, eine echte oder ausgedachte Lebensgeschichte, Bezugnahme auf andere Künstler, Absetzung von anderen Künstlern – all das ist genauso wichtig wie die Musik selbst. Das Publikum spielt auch dabei eine aktive Rolle, es ist konstituierend am Entstehen und Gelingen von Pop-Musik beteiligt, es ist für Diederichsen „der ultimative Kontext“.
Die Musik, so führt er aus, ist nicht der Kern der Bewunderung der Fans, sondern lediglich ein Wegweiser und Katalysator. Pop-Musik, so schreibt Diederichsen, sei deshalb nicht im eigentlichen Sinne Musik, sondern lediglich Vehikel für eine ganze Welt von Erwartungen, Sehnsüchten, Identifikationsgesuchen. Pop ist für ihn ein Hybrid, oder, wie es in diesem Buch immer wieder heißt, eine unreine Kunst. „Unrein ist sie, weil sie von Funktionalität und Kontextualität bestimmt ist, aber auch, weil sich in ihr verschiedene Künste mischen. Dennoch verfügt sie über die gewissermaßen künstlerische Fähigkeit, in dieser Unreinheit etwas zu artikulieren – und zwar durch diese Unreinheit, aber auch, um sie zu überwinden.“
Die Bezugnahme auf andere Künste löst in Über Pop-Musik immer wieder erstaunliche Aha-Momente aus, etwa wenn Diederichsen spannende und einleuchtende Parallelen zu Fotografie, Film und Oper zeichnet (Pop-Musik verhält sich zu Musik wie Fotografie zum Gemälde, legt er beispielsweise dar). Solche Vergleiche dienen nicht nur dazu, Traditionsstränge und Schnittmengen zu identifizieren, sondern auch, das Spezifische an Pop-Musik herauszuarbeiten. „Dass Kunstwerke aus sehr verschiedenen Konstruktionsebenen bestehen, ist noch nichts Neues. Neu ist an der Pop-Musik die Möglichkeit, dass Werke, Pop-Musik-Objekte, ihre Pointe, ihr Gewicht erst jenseits ihrer meist angenehmen und selten fordernden Oberflächen erhalten, nämlich dann, wenn man den Einzelteilen weiter nachspürt, den vorderhand angebotenen Zusammenhang verlässt, das Dritte sucht, das sie alle zusammenhält“, heißt es beispielsweise. „Nicht unbedingt interpretierend, denn das kann man auch mit jeder Oper und jedem Roman tun, sondern auf der Suche nach der Grenze des Kunstwerks selbst, nach seinem Ende, dem Ort, wo das Leben anfängt. Das vom Kunstwerk per definitionem Getrennte.“
Zum beeindrucken Horizont des Autors gehört auch die historische Komponente. Neben naheliegende Stammbäumen, etwa dem Weg vom Blues zum Rock’N’Roll, gibt es viele lohnende Gedanken zu einer erstaunlichen Kontinuität zwischen Jazz und Pop-Musik. In gewisser Weise betrachtet Diederichsen Pop-Musik als eine Weiterentwicklung von Jazz, zumindest einzelner Elemente daraus. „Das Hin- und Herschieben von fertigen Teilen, das Identifizieren von Musikblöcken als kulturell-semantisch beladen und belastet, die Idee, die leere Referenz der musizierenden Person durch Bemühungen um die Person, nicht um die Musik interessanter zu machen – all das sind Einsichten und Methoden, die vom Jazz auf die Pop-Musik übergegangen sind“, schreibt er. „Eine Kontinuität von Jazz zu Pop-Musik liegt (…) in der Kultur des illegitimen Aufgreifens/Zugreifens statt Konstruierens, der Wahrheit im Fremdsprechen, der Coolness durch Delegation und Schutz in der Gruppe, des Fliehens und performativen Hervortretens.“
Nicht zuletzt bietet das Werk höchst klarsichtige Betrachtungen zum gesellschaftlichen und politischen Status der Pop-Musik, zu ihrem Verdienst, die Welt verändert zu haben, und zu ihrem Potenzial, das auch weiterhin zu tun. „Pop-Musik führt die Möglichkeit der Nonkonformität in eine Kultur ein, deren Grundlage und deren Darstellungsmittel auf Konformität und Zustimmung angelegt sind. Sie tut dies inmitten einer Epoche, die Konformismus lehrt, predigt und zu erzwingen versucht“, schreibt Diederichsen. „Pop-Musik widersetzt sich nicht nur dem Befehl, dass ein Hemd weiß sein sollte und eine bestimmte Zigarette geraucht werden müsste, keine andere, sondern nach und nach auch allen anderen konformistisch vertretenen Werten. Erfolg hat sie damit aber nicht zuletzt, weil sich auch auf anderen Ebenen des Kapitalismus das Individuelle als Wert, Methode und Produkt gegen die Ökonomie der hohen Stückzahlen und der angepassten Untertanen durchsetzt.“
Für alle, für die Pop-Musik nicht nur ein Hobby, sondern ein Lebensinhalt, ein Koordinatensystem, ein Kompass und eine Chronik der eigenen Biografie ist, wird dieses Buch eine Offenbarung. Am Ende ist es, als habe man eine Fremdsprache erlernt, von der man bisher allenfalls ein paar Bruchstücke kannte: Das Hören hat schon vorher Spaß gemacht und war faszinierend, aber jetzt versteht man erst richtig, was man hört. „Diederichsens Buch ist jedoch nicht einfach nur SEIN Opus Magnum, es ist wirklich EIN Opus Magnum. Ein echtes ideengeschichtliches Ereignis“, hat die Süddeutsche Zeitung treffend geschrieben. Man darf diesem Ereignis wünschen, dass es ein Standardwerk wird und noch etliche Auflagen erfährt. Dann kann man auch den Patzer mit Nirvana ausbessern.
Bestes Zitat: „Niemandem ist unbekannt, dass die meiste Pop-Musik nicht nur schlecht, sondern grauenhaft, widerwärtig, katastrophal ist. Wenn Pop-Musik nicht gelingt, ist sie schlimmer als misslungen. Sie ist die zentrale Belästigung der Welt, sie kündet fortgesetzt davon, wie Leben ramponiert und verschwendet wird. Jeder weiß das. Sie ist eben nicht einfach schlechte Kunst, sondern verkörpert ein schlechtes, dummes oder mörderisches Prinzip zu leben. Und sie macht es möglich, dass Leben nicht nur misslingt, sondern dass dieses Misslingen markiert wird, der Trottel zum Loser und dem Mobbing durch den Halbtrottel preisgegeben wird.“