Autor | Dirk Kurbjuweit |
Titel | Angst |
Verlag | Rowohlt Berlin |
Erscheinungsjahr | 2013 |
Bewertung | ***1/2 |
Keller sind schon immer Orte des Grauens. Marc Dutroux trieb dort seine perversen Spielchen. Josef Fritzl hielt jahrzehntelang seine Tochter unterirdisch gefangen. Auch Natascha Kampusch erlebte im Keller von Wolfgang Priklopil ihr Martyrium.
Der Keller ist auch in Angst, dem neuen Roman von Dirk Kurbjuweit, der Ort, an dem der Schrecken zuhause ist und gerade deshalb so bedrohlich wird, weil er ganz nah ist und jederzeit nach oben kriechen kann. Hier hat er aber eine nach außen hin recht harmlose Gestalt: Im Souterrain eines schicken Berliner Altbauhauses wohnt Herr Tiberius, ein zurückgezogener Hartz-IV-Empfänger. Darüber hat sich Randolph Tiefenthaler eine Eigentumswohnung gekauft, für sich und seine Bilderbuchfamilie.
Was für den Architekten, seine Frau Rebecca und die beiden Kinder ein Zuhause werden sollte, entpuppt sich bald als Falle. Herr Tiberius setzt einen schockierenden Vorwurf in die Welt: Er habe gehört, wie die Tiefenthalers ihre Kinder sexuell missbrauchen. Bald erstattet er Anzeige, und dann schreibt er Briefe an Frau Tiefenthaler, in denen er seine sado-masochistischen Fantasien schildert.
Die Familie ist erst erschüttert und dann wild entschlossen, die haltlosen Vorwürfe aus der Welt zu räumen. Doch weder der Vermieter noch Anwälte oder die Polizei können etwas gegen Herrn Tiberius unternehmen. Die Tiefenthalers sollen sich irgendwie mit dem Problem arrangieren. So wird ihre Wohnung, von der sie sich Geborgenheit und Schutz erhofft hatten, zu einem Ort, an dem sie permanent beklemmender Angst ausgesetzt sind.
Dirk Kurbjuweit, im Hauptberuf als Journalist für den Spiegel tätig und mit Romanen wie Nachbeben, Schussangst und Zweier ohne auch als Buchautor hochgelobt, nimmt diese Situation als Ausgangspunkt, um seine Hauptfigur gleich auf mehreren Ebenen in eine Krise zu stürzen. Randolph Tiefenthaler sieht schon bald alles erschüttert, was er für unerschütterlich hielt, und er stellt sich Fragen, die er zuvor niemals zu denken gewagt hätte.
Was für ein schlechter Ehemann bin ich eigentlich? Das ist die erste Frage, denn erst angesichts der Bedrohung durch „den Untermensch“, wie seine Frau den Mann im Keller bald nennt, wird Randolph klar, wie sehr er sich aus seiner eigenen Familie zurückgezogen und insbesondere seine Frau im Stich gelassen hat.
Auch deshalb ist Angst von Beginn an im Tonfall einer Lebensbeichte geschrieben. „In den Wochen, bevor Herr Tiberius uns heimsuchte, lebten wir in einer schwer erträglichen Apathie miteinander“, muss sich Randolph Tiefenthaler eingestehen. „Rebecca hatte aufgegeben, um mich zu kämpfen. Sie fragte nicht mehr: Was ist mit dir? Sie bekam ohnehin immer die gleiche Antwort: Es ist nichts. Es ist die fürchterlichste Antwort von allen, sie gehört verboten und sollte, einigt man sich auf einen Ehevertrag, dort ausgeschlossen werden, weil sie fast nie stimmt und den anderen hilflos lässt. Gegen nichts kann man nichts tun.“
Bleibt uns nichts anderes übrig als Selbstjustiz? Auch dieser Gedanke steht schnell im Raum. Denn der Architekt, den man durchaus einen Spießbürger nennen kann, bekommt grundsätzliche Zweifel am Rechtsstaat, als ihm keine offizielle Stelle im Kampf gegen Herrn Tiberius zur Seite stehen will. Er muss erkennen, wie fragil die Sicherheit ist, in der er sich wähnte, und wie leicht sein ganzes Leben selbst durch den haltlosen Vorwurf eines Niemands aus der Bahn geraten kann. „Mir wurde klar, dass all das, was ich als meinen Vorteil gesehen hatte, mein Nachteil war: meine Familie, mein Beruf, mein gutes Leben, mein Geld, mein guter Ruf. Ich konnte das alles verlieren, während er nichts zu verlieren hatte“, stellt er fest, als er das Kräfteverhältnis mit Tiberius abwägt. Seine Ohnmacht wird noch verstärkt durch sein bürgerliches Weltbild, das es ihm nicht einmal gestattet, dem Stalker eine lautstarke Standpauke zu halten – geschweige denn, Hand an Herrn Tiberius anzulegen.
Was bedeutet eigentlich „Familie“? Auch darauf versucht Tiefenthaler eine Antwort zu finden, und er wühlt dabei eifrig und schonungslos in seiner eigenen Biografie. Insbesondere die Beziehung zu seinem Vater kommt auf den Prüfstand, einem notorischen Waffennarren, der ihm im Laufe der Jahre immer fremder geworden ist, und der ihm schon als Kind unheimlich war wegen all der Pistolen im Haus. „Es ist uns nichts Schlimmes passiert, mein Vater hat nie auf uns geschossen, hat nie auf uns gezielt, hat nie eine Schießdrohung ausgesprochen, wir sind von Waffen genauso unbehelligt aufgewachsen wie alle anderen auch, aber sie waren da, und das hat alles verändert, weil die Möglichkeiten andere waren, vor allem die möglichen Bedrohungen, und das hat die Gedanken verändert, hat sie manchmal, aus heutiger Sicht, hysterisch werden lassen. Für mich war zu Hause ein Ort, an dem man erschossen werden konnte.“
Nicht zuletzt ist Angst auch ein Buch über Wahrnehmung und Erkenntnis und ihre Grenzen. Denn einmal infiziert mit dem Vorwurf, den Herr Tiberius in die Welt gesetzt hat, kann Randolph Tiefenthaler kaum mehr unbefangen mit seinen Kindern umgehen. Die Unterstellung des sexuellen Missbrauchs ist ebenso empörend wie ungerechtfertigt, meint er zu Beginn. Doch selbst in dieser Frage nagt schon bald die Angst am Familienvater: Kann es sein, dass die Kinder es sich einbilden und ihnen geglaubt wird? Kann es sein, dass ich es getan und verdrängt habe? Wem wird man am Ende glauben?
All das macht aus Angst einen sehr spannenden, vielschichtigen und intelligenten Roman. Dirk Kurbjuweit unterstreicht mit dem Buch erneut, warum ihn der Tagesspiegel einst als „Erzähler allerersten Ranges“ gepriesen hat: Er braucht gar keine stilistischen Finessen, sondern kann beinahe unprätentiös erzählen, weil seine Figuren und seine Geschichte so gut sind. Angst ist ein sehr lesenswerter Roman über Kultur und Barbarei, Familie und Männlichkeit. Und hat eine sehr subtile und eindrucksvolle Botschaft: Beängstigend ist in unserer Welt nicht der unheimliche Typ im Keller. Sondern die Erkenntnis, wie zerbrechlich unser Glück ist, unser Leben – und unser Wertgefüge.
Bestes Zitat: „Wir sind, gerade in langen Beziehungen, nicht mit dem Menschen zusammen, den es wirklich gibt, sondern mit dem Menschen, den wir uns im Kopf erschaffen, vor allem durch die Auswahl unserer Erinnerungen.“