Autor | Elias Canetti | |
Titel | Die Stimmen von Marrakesch | |
Verlag | Süddeutsche Bibliothek | |
Erscheinungsjahr | 1968 | |
Bewertung |
Man könnte Die Stimmen von Marrakesch ein Reisetagebuch nennen. Schließlich berichtet der Autor, geboren in Bulgarien, aufgewachsen in Wien, Manchester, Zürich und Frankfurt, dann nach England ausgewandert, um den Nazis zu entkommen, hier in kleinen Episoden über seine Erfahrungen in der Stadt, die Winston Churchill einmal „das Paris der Sahara“ genannt hat. Doch diesen Eindruck kann allenfalls ein sehr flüchtiger Leser haben.
Denn Canetti, 1981 mit dem Literaturnobelpreis geehrt, gibt hier nicht nur die eigene Erinnerung wieder, wie das in einem Tagebuch der Fall wäre. Er gestaltet seine 14 Momentaufnahmen viel eher wie Briefe oder Postkarten. Er spricht nicht zu sich selbst, sondern zu uns. In einem Tagebuch gibt es keinen Grund, das Sinnliche zu betonen, denn das Unmittelbare der Situation hat man ja bereits im Gedächtnis und kann es mithilfe von ein par Notizen jederzeit wieder zum Leben erwecken. In Die Stimmen von Marrakesch merkt man aber sehr deutlich, wie sehr dem Autor daran liegt, dass seine Schilderung auch für Außenstehende erkennbar, erlebbar, sogar authentisch wird.
Das hat eine sehr bildhafte Sprache zufolge, die dem Büchlein nach und nach einen ganz eigenen Ton und eine zauberhafte Atmosphäre verleiht. Ob auf dem Kamelmarkt, dem Basar oder im Restaurant, in das die bettelnden Kinder hineinspähen: Der Leser ist mittendrin in diesen Farben und Gerüchen, dem Klang und selbst der Hitze.
„Auf Reisen nimmt man alles hin, die Empörung bleibt zu Haus. Man schaut, man hört, man ist über das Furchtbarste begeistert, weil es neu ist. Gute Reisende sind herzlos“, beschreibt Canetti an einer Stelle sein Ideal eines Touristen. Genau diese Herangehensweise ist die größte Stärke von Die Stimmen von Marrakesch: Die treibende Kraft dieser Erzählungen ist die pure Neugier.
Canetti schildert die Faszination, die Marrakesch auf ihn ausübt, in all ihren Facetten: Anziehung, Fremdheit, Ekel, Angst, Erotik. Bloß eines bringt er niemals zum Ausdruck: Überheblichkeit. Womöglich ist es seine eigene, jüdische Biographie, die ihn immer wieder selbst zum Fremden in neuer Umgebung werden ließ, die diese Toleranz in ihm zum Grundprinzip machte. Er erkennt die Unterschiede zur anderen Kultur, er sucht aber das Verbindende.
Wenn er beispielsweise die Gesichter von Kamelen auf dem Markt beobachtet, um dann zu erkennen, dass sie große Ähnlichkeit mit alten englischen Damen haben, dann ist das nur das amüsanteste Beispiel dafür. Auch anderswo kommt diese Mischung aus Respekt und Poesie zum Vorschein, etwa beim Schlendern über den Basar: „Es wird sozusagen alles auf einmal angeboten, was dieser größte und berühmteste Bazar der Stadt, des ganzen südlichen Marokko an Lederwaren besitzt. In dieser Zurschaustellung liegt viel Stolz. Man zeigt, was man erzeugen kann, aber man zeigt auch, wieviel es davon gibt. Es wirkt so, als wüssten die Taschen selber, dass sie der Reichtum sind, und als zeigten sie sich schön hergerichtet den Augen der Passanten. Man wäre gar nicht verwundert, wenn sie plötzlich in rhythmische Bewegung gerieten, alle Taschen zusammen, und in einem bunten orgiastischen Tanz alle Verlockungen zeigten, deren sie fähig sind.“
Diese Herzenswärme Canettis, die er selbst den elendesten und penetrantesten Figuren in seinem Buch entgegenbringt, strahlt letztlich noch deutlich stärker aus Die Stimmen von Marrakesch als die Hitze des nördlichen Afrika. Canetti erkennt das Leben in den Dingen und er erkennt die Menschen, die sie gemacht haben. Er weiß um die Bedeutung, die sie für Menschen haben, und in der Fremde wird ihm mehr und mehr klar: Es gibt einen Sinn, der in ihnen steckt. Und es gibt das manchmal noch viel Reizvollere, das sie jenseits ihres Sinns beinhalten.
Bestes Zitat:
„Die Entschlossenheit eines dummen Menschen ist unerschütterlich.“