Autor | Ernst Horst |
Titel | Die Nackten und die Tobenden. FKK – Wie der freie Körper zum deutschen Kult wurde |
Verlag | Blessing |
Erscheinungsjahr | 2013 |
Bewertung |
Der Regierungsschulrat ist außer sich. Schweinkram! Zügellosigkeit! Sodom und Gomorrha! So kann das nicht weiter gehen. Er fordert, dass Medizinstudenten künftig die Anatomie nur am männlichen Körper gelehrt bekommen. Die weibliche Anatomie dürften sie erst kennen lernen, wenn die Studenten verheiratet seien. Das ist wirklich passiert. In Würzburg, im Jahr 1953.
Einerseits ist das nicht allzu verwunderlich: Kaum ein Zeitalter der Menschheitsgeschichte dürfte derart zugeknöpft gewesen sein wie das wilhelminische Kaiserreich. Und auch zu Zeiten der oben beschriebenen Anekdote war Spießigkeit in Deutschland erste Bürgerpflicht. Der Erzbischof von Köln war die oberste moralische Autorität, noch vor dem Bundeskanzler, der damals Konrad Adenauer hieß und ebenfalls stockkatholisch war.
Andererseits ist die Prüderie des Regierungsschulrats aus dem Frankenland auch erstaunlich. Schließlich gilt Deutschland als Mutterland der Freikörperkultur. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser Trend spürbar, in den Nachkriegsjahren war er ungebrochen.
Warum waren ausgerechnet die sonst so auf Sittlichkeit bedachten Deutschen so versessen darauf, ihre Freizeit nackt und im Freien zu verbringen? Dieser Frage geht Kulturforscher Ernst Horst in seinem Buch Die Nackten und die Tobenden nach. FKK – Wie der freie Körper zum deutschen Kult wurde lautet der Untertitel, der freilich etwas irreführend ist. Denn statt einer Kulturgeschichte der nackten Deutschen liefert der Journalist, der vor allem für das Feuilleton der FAZ schreibt, eher einen Überblick über die Medien, die in Deutschland die FKK-Kultur begleiteten. Er wertet Hefte wie Sonnenfreunde, Freies Leben oder Licht und Schönheit aus, der Schwerpunkt liegt auf den Jahren 1949 bis 1970, also der Blütezeit der Nacktkultur.
Dieser Fokus ist schnell erklärt: Folgt man der Argumentation von Ernst Horst, dann erregten die Zeitschriften viel mehr Aufmerksamkeit als die eigentlichen Nacktvereine und Nacktstrände. Sowohl die Sittenwächter auf Seiten der Justiz beschäftigten sich intensiv mit den Blättern als auch all jene, die gerne nackte Menschen betrachten (aus welchen Gründen auch immer), aber niemals auf die Idee gekommen wären, sich selbst in der Öffentlichkeit auszuziehen.
Die Freikörperkultur bestehe „zu neunzig Prozent nur aus medialem Echo“ (also den Tobenden, die sich über die Nackten aufregen), folgert Horst. „Jedenfalls existierte sie zunächst mehr in der abstrakten Sphäre der Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, ehe sie sich dann allmählich in die raue Wirklichkeit hinein bewegte.“
Das Buch wird zum Porträt einer schillernden, längst vergessenen Medienlandschaft. Horst Ernst zeichnet beispielsweise nach, wie fleißig die Verleger voneinander abkupferten: Jede Variation, die sich als Erfolgsrezept erwies, wurde eilends kopiert. Er stellt die wichtigsten Protagonisten vor (Verleger, Fotografen, Funktionäre) und macht deutlich, dass die Macher vor allem in den frühen Jahren der Bundesrepublik immer mit einem Bein im Gefängnis standen. Verlage und Redaktionen testeten genau aus, wie weit sie bei der Auswahl der Fotomotive gehen konnten, ohne dass diese als allzu aufreizend oder gar pornografisch galten.
Dass die Freikörperkultur gar nichts mit Erotik zu tun haben wollte, merkt der Autor immer wieder an, genauso wie er klarstellt, dass das vielen der Leser der Hefte und erst recht den empörten Moralaposteln egal gewesen sein dürfte. „Die Gegner der FKK haben deren Zeitschriften immer als Erotika gesehen. Auch heute ist es noch so, dass Normalverbraucher, die in Internetauktionen solche Hefte verkaufen, selten einen Unterschied zwischen FKK und Sex machen. Es gibt aber einen Unterschied. FKK ist auch die Freiheit, gesellschaftliche Konventionen nicht zu akzeptieren. FKK ist so etwas wie Atheismus“, schreibt Horst.
Solche mitunter philosophischen Interpretationen sind ebenso typisch für Die Nackten und die Tobenden wie der angenehm ironische Ton des Autors. Der Kulturwissenschaftler nähert sich seinem Thema nicht mit Bierernst, sondern mit großer Leichtigkeit, die auch dafür sorgt, dass der Verdacht von Spießigkeit, Anrüchigem oder allzu viel Wissenschaft zugleich vom Tisch gewischt wird.
Zum Lesevergnügen tragen auch die Miszellen am Ende jedes Kapitels bei, in denen verwunderliche Begebenheiten rund um die Nacktheit berichtet werden wie die vom bereits erwähnten Würzburger Regierungsschulrat. Und nicht zuletzt die zahlreichen Abbildungen, die den Charme der FKK-Hefte illustrieren und erst recht unverständlich wirken lassen, warum sie bis weit in die 1960er Jahre hinein für so viel Aufregung und juristischen Ärger sorgen konnten.
Nach knapp einem halben Jahrhundert war dann alles vorbei. Die Pädophilie-Vorwürfe gegen einige der Magazine wollten damals nicht verstummen, zudem war im Internet längst viel mehr Nacktheit verfügbar. 1998 verschwand das letzte Magazin vom Markt.
Bestes Zitat: „Die FKK-Presse (…) war letztlich eine Form der erotischen Literatur, nur auf eine extrem unschuldige Art. Jedes einzelne Foto zeigte etwas, das auch am Strand von Sylt erlaubt war. Die Auswahl der Fotos war aber so, als hätte eine gute Fee alle Badenden bis auf die fünf Prozent der hübschesten und jüngsten Frauen weggezaubert.“