Autor | Florian Werner |
Titel | Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheiße |
Verlag | Nagel & Kimche |
Erscheinungsjahr | 2011 |
Bewertung | **** |
„Scheiße“ sagt man nicht, lernt man schon als kleines Kind. Hat man Scheiße gebaut, droht in der Regel reichlich Ärger, bemerkt man als Heranwachsender. Und später als Erwachsener weiß man: Wer Scheiße anfasst, erotisch findet oder gar verzehrt, steht sofort außerhalb des Feldes, das wir als unsere Zivilisation abgesteckt haben. Scheiße ist das letzte Tabu.
Florian Werner, 1971 geborener Kulturwissenschaftler aus Berlin, bricht es. In Dunkle Materie – Die Geschichte der Scheiße betrachtet er das menschliche Exkrement historisch, medizinisch, sprachwissenschaftlich, psychologisch, religiös – und dabei gelingt ihm ein ebenso faszinierendes wie unterhaltsames Buch. 20 Dinge, die Sie noch nicht über Scheiße wussten, habe ich hier zusammengefasst.
Gerade aus der Verbannung der Scheiße schöpft sich der unbändige Reiz von Dunkle Materie. Denn die Tabuisierung lässt selbst die harmlosesten, unschuldigsten Betrachtungen rund um das Ergebnis der menschlichen Verdauung subversiv, gefährlich und höchst amüsant wirken. Dass sich hier ein Autor tatsächlich fundiert und seriös mit einem derart verpönten Subjekt befasst, das sorgt schon per se für Erhellung, Verwunderung und Witz. Zugleich muss man sich schon nach dem ersten Absatz fragen: Warum wird dieses Buch erst jetzt geschrieben?
Denn Dunkle Materie macht deutlich, wie sehr die Beschäftigung mit Fäkalien unser Leben, unsere Welt und vor allem unsere Moral geprägt hat. Dass der Ekel vor der Scheiße keineswegs angeboren ist, dass Gestank eine Frage der kulturellen Prägung ist und wie sehr unser Umgang mit den Exkrementen unser Weltbild spiegelt – all das führt Dunkle Materie vor Augen.
Warum treiben unsere Ausscheidungen den Kapitalismus an und stellen ihn zugleich infrage? Wieso sind Babys so fasziniert von ihrem Stuhlgang? Weshalb ekeln wir uns so sehr vor dem, was kurz zuvor noch Teil von uns war? Was macht „Scheiße“ zu so einem beliebten Schimpfwort? Musste Jesus Christus kacken? Diesen Fragen, und vielen anderen, geht Florian Werner in Dunkle Materie nach, profund und kenntnisreich. Gelegentlich übertreibt er es zwar mit seinen Wortspielen (dann geht schon einmal etwas „in die Annalen des Analen ein“), doch gerade der gewitzte Umgang mit der Sprache sorgt über 240 Seiten auch für das dringend benötigte Augenzwinkern – und macht die intensive Beschäftigung mit einer derart ekligen Materie dennoch angenehm.
Werner wühlt so tief in, nunja, seinem Thema und bringt derart erstaunliche Erkenntnisse hervor, dass Dunkle Materie tatsächlich eine Kulturgeschichte wird – nicht nur der Scheiße, sondern der Menschheit. Werner nimmt zwar die Scheiße nicht allzu ernst, aber in jedem Fall ihre Auswirkungen. „Die menschliche Kultur gründet auf der Scheiße“, heißt der erste Satz, und kurz darauf folgt die Begründung: „Weil wir erst durch die Abgrenzung von der Scheiße wissen, was Kultur überhaupt ist. (…) Wir brauchen die Scheiße, um sie zu beseitigen und uns dadurch in unserer Kultiviertheit zu bestätigen.“
Das ist nur der erste Fall einer Argumentation, die zunächst gewagt bis albern wirkt, dann aber schnell einleuchtet. Dass Werner dabei ganz ungeniert von „Scheiße“ spricht, deutet keineswegs auf eine schlechte Kinderstube hin. Stattdessen begreift er den Begriff völlig wertneutral, und beleuchtet ihn dann in all seinen Facetten.
In zwei Jahren Arbeit hat Florian Werner eine umfangreiche Materialsammlung zum Thema geschaffen, die ebenso verblüfft wie seine eigenen Thesen. Denn er wandelt in den Fußstapfen diverser Geistesgrößen von Schiller bis Luther, von Kant bis Kundera, die sich ebenfalls eingehend mit der Dunklen Materie befasst haben. Die Erkenntnisse sind zwar in mitunter willkürlich wirkende Kapitel zusammengefasst (etwa Gott ist Kot oder Die dunkle Seite der Macht). Doch stets schafft es Werner, unerwartete Brücken zu schlagen.
Das beste Beispiel in dieser Hinsicht ist sein Schluss. Da vergleicht Werner den literarischen Produktionsprozess mit der Verdauung: Der Autor nimmt Erfahrungen (Nahrung) auf, verarbeitet (verdaut) sie dann und scheidet sie in anderer Form wieder aus. Sein Buch ist also: Scheiße. Wäre das noch nicht perfide genug, geht Florian Werner auch noch auf die Kritiker ein: Jeder, der eine Rezension des Buches verfasst, frisst also Scheiße, verdaut sie erneut und gibt ebenfalls Scheiße von sich. Beim Leser, der diese Reihe ebenfalls fortsetzt, aber allenfalls Gedanken (Fürze) produziert statt neuer Texte, landet in jedem Falle nur eins: Dunkle Materie. Vornehm ausgedrückt.
Bestes Zitat: „In demselben Maße, in dem die tatsächlichen Exkremente aus unserem Leben verschwunden sind, so könnte man sagen, hat die industriell und medial erzeugte Scheiße zugenommen.“
20 Dinge, die Sie noch nicht über Scheiße wussten und eine Fotostrecke zum Thema „Kacke und Kultur“ gibt es bei news.de.
3 Gedanken zu “Durchgelesen: Florian Werner – „Dunkle Materie“”