Autor | Frank Goosen | |
Titel | Sommerfest | |
Verlag | Kiwi | |
Erscheinungsjahr | 2012 | |
Bewertung |
Dort, wo das Herz des Ruhrpotts am lautesten schlägt, ist Stefan aufgewachsen. Mittlerweile lebt er in München, wo sein Vertrag als Schauspieler am Theater gerade nicht verlängert wurde. Mit dem Ruhrgebiet verbindet ihn nicht mehr viel, glaubt er: Seine Eltern sind längst tot, die alten Freunde fast vergessen, die Geschichte mit seiner Jugendliebe Charlie halbwegs erfolgreich verdrängt.
Trotzdem steht für Stefan nun ein Trip in die Heimat und damit eine Reise in die Vergangenheit an. Onkel Herrmann ist gestorben, der zuvor Stefans Elternhaus bewohnt hat. Stefan will das Haus nun verkaufen und die Gelegenheit zugleich nutzen, seiner geliebten Oma einen Besuch im Pflegeheim abzustatten und auch mal beim Sommerfest seines alten Fußballvereins vorbeizuschauen.
Was Frank Goosen in Sommerfest, seinem fünften Roman, aus dieser denkbar banalen Ausgangssituation macht, ist durchaus erstaunlich. In nur zwei Tagen erzählter Zeit verfängt sich seine Hauptfigur in alte Beziehungen, erkundet alte Landschaften und muss erkennen, dass sie sich seit ihrem Abschied aus der Heimat längst nicht so sehr weiterentwickelt hat, wie sie es gerne hätte – und womöglich auch noch in die falsche Richtung.
Sommerfest wird somit zu einer skurrilen Geschichte eines verlorenen Sohns, der die Sehnsucht nach Jugend, Heimat und Sicherheit wieder entdeckt, und all das doch nicht wahr haben will. „Es wird Zeit, dass ich meine Jobs und Besuche hier durchziehe und wieder verschwinde. Das ist alles Vergangenheit, und die zieht dich runter, und dann kommst du nie wieder hoch“, beschwört sich Stefan selbst, und doch kommt er gegen diesen Sog nicht an, weil er seiner Anziehungskraft eben allenfalls halbherzig zu entfliehen versucht.
Diese notorische Unentschlossenheit der Hauptfigur ist manchmal ein bisschen dick aufgetragen, sorgt letztlich aber auch für die Spannung des Romans. Stefan ist ein Sklave seiner Reflexion. Vor lauter Nachdenken und Gedankensprüngen kommt er nicht zum Leben, Handeln oder gar Entscheiden. So bleibt er bei seiner Stippvisite hängen in einer Welt, die von Fußball, Bier und Schlägereien regiert wird, und in der die gemeinsam ertragene Langeweile der Jugend nach wie vor als verbindendes Element dient. „Dieses ewige Wassertreten im modrigen Tümpel von Kindheit und Jugend“ war es, was Stefan einst fliehen ließ. Aber bei seiner Rückkehr erfährt er, wie viel Wärme und Nähe darin auch stecken kann.
Der Bochumer Goosen erzählt das alles ebenso nonchalant wie mitfühlend. Gekonnt spielt er mit der Sprache, der Grammatik, den Floskeln und Kalauern des Potts, in die Stefan unmerklich auch nach und nach wieder verfällt. Der Autor integriert teils echte Geschichten in seinen Roman, wie er in der Danksagung deutlich macht. So verwundert es nicht, dass Sommerfest vor grandios authentischen Figuren wimmelt wie Diggo und Toto, die sich herrlich halbstarke Dialoge liefern. Oder Omma (mit doppeltem M!) Luise, die Stefan problemlos zugleich Zuversicht und ein schlechtes Gewissen verpassen kann. „Er umarmt sie und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Wahrscheinlich hat er keine Frau im Leben so oft umarmt wie diese. Und das ist immer noch zu wenig.“
Und dann ist da ja noch Charlie. Inmitten dieser Welt, in der scheinbar jeder jeden kennt und in der scheinbar alle alles gemeinsam erlebt haben, ist sie so etwas wie ein Fixstern für Stefan, auch wenn sie in Sommerfest lange Zeit nur wie ein Geist präsent ist. Sie ist vielleicht der Grund dafür, dass Stefan nicht zur Ruhe kommt, ganz sicher die Liebe seines Lebens, der niemals versiegende Treibstoff für seine Gedankenausflüge: „Charlie. Charlotte Abromeit. Die Enkelin des Masurischen Hammers, des alten Kirmesboxers, der großen Liebe von Luise Borchardt, geborene Horstkämper. All diese Geschichten, die man eigentlich aufschreiben müsste, aber ‚eigentlich’ ist ein großes Wort, das größte vielleicht überhaupt, weil es immer zwischen dem steht, was man tut, und dem, was man tun sollte. Aber das, was man tut, ist nun mal das, was einen am Leben erhält. Das, was man tun sollte, lenkt einen ab und bläst einem Wolken in den Kopf.“
Auch diese Liebesgeschichte ist besonders innig und besonders langlebig, aber nicht besonders ungewöhnlich und mit einigermaßen vorhersehbarem Ende. Sie fügt sich damit sehr schön ein in das Geschehen in Sommerfest, das letztlich ein Denkmal für die Romantik des Ruhrgebiets ist, eine wehmütige Geschichte über die unwiderstehliche Kraft von Authentizität und die Tatsache, dass wir das, was wir „Identität“ nennen, längst nicht im Alleingang bestimmen können.
Bestes Zitat: „Woanders weiß er selber, wer er ist, hier wissen es die anderen, das ist Heimat.“
Ich bin selbst auch ein Kind des Ruhrgebiets und von daher empfinde ich die Bücher von Frank Goosen wahrscheinlich auch anders als beispielsweise jemand aus Norddeutschland oder Bayern. In den geschilderten Erlebnissen fühle ich mich zu Hause, die Protagonisten begegnen mir täglich auf der Straße. Es ist lobenswert, dass der Autor nicht nur unterhalten will, sondern auch auf die Missstände in unserem Land hinweist wie beispielsweise die Arbeitsmarktsituation. Ein tolles Buch!