Autor | Franka Potente |
Titel | Allmählich wird es Tag |
Verlag | Piper |
Erscheinungsjahr | 2014 |
Bewertung |
Vor ein paar Wochen war Tims Welt noch in Ordnung. Jetzt liegt sie in Trümmern. Seine Frau hat ihn, nach Jahren der Vernachlässigung, für ihren Liebhaber verlassen. Kurz darauf hat Tim seinen Job in der Finanzbranche verloren. Und jetzt hat er auch noch erfahren, dass Peter Heffner weg ist, ein guter Freund der Familie, mit dem er sich aber vor vier Jahren zerstritten hatte: Peter ist an Krebs gestorben, ohne dass sich die Kumpels aussöhnen konnten.
„Nichts war geblieben. Ein Stück vom Sohn, ja. (…) Und das Haus. Es würde Kraft kosten, neu zu beginnen“, muss Tim feststellen, als er sich im Garten seines Grundstücks in Los Angeles die Zwischenbilanz seines 49 Jahre währenden Lebens bewusst macht. Es ist nicht so sehr diese Ausgangssituation, in der die Finanzkrise, zerrüttete Familienverhältnisse und die hilflose Suche nach einem modernen Bild der Männlichkeit zusammenfließen, die Allmählich wird es Tag zu seinem so spannenden Roman macht. Es ist die Hauptfigur. Mit Tim hat Franka Potente, die nach ihrem überzeugenden Erzählungsband Zehn nun ihren ersten Roman vorlegt, einen wunderbaren Helden erschaffen.
Man kann beim Hintergrund der Autorin gar nicht anders, als sich die Frage nach einem geeigneten Darsteller für Tim in einer möglichen Verfilmung dieses Romans stellen, und John Travolta wäre eine ebenso gute Besetzung wie Matt Damon (der auch vom Alter her besser passen würde). Ihren persönlichen Favoriten verrät Franka Potente in Allmählich wird es Tag gleich selbst: Bruce Willis. Denn wenn Tim betrunken ist – und nachdem ihm wochenlang nur Schmerz, Niederlagen und Demütigungen begegnen, ist er das oft – fühlt er sich wie John McClane. Ein einsamer Wolf, ein Pragmatiker, einer, der nur seine Ruhe haben will, gegen den sich aber leider die Welt verschworen hat.
Die Szenen, in denen mit Parallelen zu Stirb langsam gearbeitet wird, sind freilich nicht unbedingt notwendig für dieses Buch. Tims Schwanken zwischen kernig und sensibel ist nicht immer hundertprozentig glaubwürdig. Eine weitere Schwäche des Buchs ist, dass Franka Potente gelegentlich zu explizit wird: Die Figuren haben nicht allzu viele Geheimnisse und Facetten, aber diese wenigen landen meist auf dem Präsentierteller.
Dafür hat Potente, ähnlich wie ihr ebenfalls schriftstellernder Schauspiel-Kollege Ethan Hawke, andere Stärken zu bieten: Allmählich wird es Tag ist ur-amerikanisch und beweist ein gutes Gefühl für Dialoge und Schauplätze. Und kreist, wie erwähnt, um einen faszinierenden Helden, dem klar wird, dass er es sich nicht mehr länger leisten kann, dem Rest der Welt gleichgültig und egozentrisch zu begegnen, der aber jeglichen anderen Umgang mit den Menschen verlernt hat.
Als Tim plötzlich allein in der Mitte seines Lebens steht, wechseln sich Wut und Verdrängung ab, Selbstzweifel und die Hoffnung, einen Neuanfang meistern zu können. Der beinahe 2-Meter-Mann ist fast ohnmächtig in dieser Krise, wie von Sinnen. Er scheint sehenden Auges in seinen zähen, würdelosen Untergang zu laufen. Statt Entscheidungen zu treffen wirkt er, als werde er getrieben von einer unsichtbaren Kraft, die ihn zu sexuellen Abenteuern mit einer Nachbarin und einer Studentin, zu Drogen und zum vollkommen verklärten Stöbern in der eigenen Vergangenheit führt. „Wenn er high war, hatte er hin und wieder Momente, in denen er sich von außen betrachtete. Momente, in denen er einen blassen Loser auf der Couch sah. Das reichte. Ein gescheiterter Ehemann mit erwachsenem Sohn, der sich benahm wie ein Achtzehnjähriger“, muss er sich dann eingestehen.
Es gibt reichlich Eskapaden in diesem Roman, die ein willkommenes Gegenstück zur Introspektion liefern. Tim versucht, die eigene Jugend wieder auferstehen zu lassen, die Freiheit zu genießen, den Pfad seines Lebens zu finden, den er irgendwann verlassen hat, ohne dabei zu ahnen, dass er in einer Sackgasse landen könnte. Was ist eigentlich falsch gelaufen?, fragt er sich dann. Was mache ich hier überhaupt gerade? Die Antwort heißt mitunter „Scheißescheißescheiße“, und seine Reflexionen enden oft mit einem beherzten „Fuck!“ Trotzdem weiß der Leser, dass es für diesen Helden keine Alternative zur Selbstanalyse gibt. Aus der Frage, ob Tim das auch selbst klar werden wird, bevor er sich zugrunde gerichtet hat, bezieht Allmählich wird es Tag seinen stärksten Reiz.
Bestes Zitat: „Er steckte fest. Zwischen zwei Leben. Einem alten, das er noch nicht richtig verstanden hatte, und einem neuen, von dem er nicht wusste, wie es aussah und was er für eine Rolle darin spielen würde. Eine gefährliche Zwischenwelt.“