Autor*in | Friedhelm Rathjen | |
Titel | Von Get Back zu Let It Be. Der Anfang vom Ende der Beatles | |
Verlag | Rogner und Bernhard | |
Erscheinungsjahr | 2010 | |
Bewertung |
Am 2. Januar 1969 kamen die Beatles in den Fernsehstudios in Twickenham im Londoner Westen zusammen. Einen Monat lang sollten sie an neuen Songs arbeiten, permanent beobachtet von einem Kamerateam. Was sie dabei bewerkstelligten, war erst als eine TV-Dokumentation geplant, dann als die filmisch begleiteten Proben für ein großes Live-Spektakel, dann als Kinofilm, schließlich als Album. Am Ende wurden es, wie John Lennon später formuliert hat, „die erbärmlichsten Sessions auf Erden“, oder – wie George Harrison sich erinnert – „der Tiefpunkt aller Zeiten“. Die Tage in Twickenham wurden Der Anfang vom Ende der Beatles, wie Friedhelm Rathjen sein Buch untertitelt hat.
Auf Basis der Film- und Tonaufnahmen aus dem Januar 1969 hat er diese turbulente Phase der Fab Four nachgezeichnet. Jedem Tag im Studio (zuerst in Twickenham, ab 21. Januar 1969 dann in den Apple-Studios in der Saville Row) widmet er ein Kapitel mit dem Ablauf der musikalischen Versuche, wichtigen Dialogen und jeweils einem Fazit. Das klingt nach nüchterner Chronistenpflicht, doch das Ganze betreibt Rathjen durchaus mit aufklärerischem Charakter. Denn sowohl der Film Let It Be, der aus dem Material entstand, als auch das gleichnamige Album und erst recht die Diskussionen um das eng mit diesen Sessions verbundene Ende der Beatles werfen ein falsches Licht auf das Geschehen, wie er überzeugend darlegt. Er will mit Von Get Back zu Let It Be „erstmals ein authentisches Bild zeichnen“.
Zur Ausgangslage: Zu Beginn des Jahres 1969 stecken die Beatles in einer Sackgasse. Sie sind nach wie vor erfolgreich, sie werden vergöttert, aber musikalisch gibt es innerhalb der Band große Differenzen. George Harrison spielt schon lange mit dem Gedanken eines Soloalbums, Ringo Starr hat unmittelbar im Anschluss an die Sessions in Twickenham ein Engagement als Schauspieler in der Tasche, John Lennon findet in Kunst-Happenings mit Yoko Ono deutlich mehr Erfüllung als mit seiner Band.
Dazu kommt: Jeder einzelne von ihnen zählt im Jahr 1969 zu den zehn berühmtesten Menschen der Welt. Keiner der vier Endzwanziger hat es mehr nötig, sich für die Beatles ins Zeug zu legen – entsprechend schwierig liefen auch die vorangegangenen Projekte wie das Weiße Album. Der einzige Beatle, dem die Band zu diesem Zeitpunkt noch wirklich am Herzen liegt, ist Paul McCartney. Er ist die treibende Kraft bei diesen Sessions. Seine Idee: Die Fab Four sollen zurück zu ihren Wurzeln, zu ungestümem Rock’N’Roll, alles live aufgenommen und von einem TV-Team begleitet. So will er den Geist der Anfangsjahre wieder zum Leben erwecken, den Zusammenhalt innerhalb der Band festigen und der Welt zeigen: Die Beatles sind stärker denn je.
„Genau genommen sind es zwei Geschichten, die erzählt werden müssen, eine musikalische Geschichte, nämlich die Entstehung des vorletzten Beatles-Albums, das von vielen bis heute für ihr letztes gehalten wird, und eine menschliche Geschichte, nämlich die des Umgangs der Beatles miteinander“, fasst Rathjen die doppelte Zielsetzung (für sein Buch und für die Sessions) zusammen. Nicht erst im Rückblick kann man erkennen, wie ambitioniert das war: Den Rock’N’Roll-Ursprüngen, denen sie hier nachspüren wollen, sind die Beatles musikalisch längst entwachsen. Die Idee, den Gruppenzusammenhalt zu stärken, muss auch deshalb scheitern, weil jedes Bandmitglied seine eigenen Songs schreibt – und zwar mittlerweile meist solche, die im Bandkontext nicht funktionieren. Mit festen Arbeitszeiten geduldig und fokussiert an neuen Stücken zu arbeiten, sind die Musiker längst nicht mehr gewohnt. Nicht zuletzt ist es für einen Mix aus musikalischem Neubeginn und sozialer Gruppentherapie nicht allzu hilfreich, wenn man jederzeit gewahr sein muss, dass dies alles für ein Millionenpublikum aufgezeichnet wird. Folgerichtig beäugen sich die Beatles hier ebenso skeptisch und unbarmherzig wie sie von den Kameras beäugt werden.
Was sich aus dieser Ausgangssituation entwickelt, ist für Beatles-Fans natürlich hoch spannend. Rathjen dokumentiert das Geschehen minutiös, aber nicht bloß mit kühlem Forschergeist. Um so viel Fachwissen anzuhäufen, wie er es hier beweist, muss man ein beinharter Fan sein (das Blaue Album war die erste Schallplatte, die sich Rathjen, Jahrgang 1958, kaufte). Trotzdem macht die Bewunderung für die Beatles den Autor nicht blind, seine Urteile über die soziale Dynamik innerhalb der Band und die Qualität einzelner Takes sind präzise und gut begründet, oft geht er dabei hart mit den Musikern ins Gericht, die im schlimmsten Fall „ein Lied meucheln“ oder bloß eine „Horror-Version“ zustande bringen. Vor allem John Lennon kommt dabei nicht gut weg, der zumindest in der ersten Phase der Sessions wie weggetreten ist (Yoko Ono dürfte dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie seine damalige Heroinsucht) und dessen begrenzte musikalische Fähigkeiten Rathjen in Von Get Back zu Let It Be immer wieder erwähnt. Aus heutiger Sicht höchst überraschend ist auch die primitive Technik, mit der sich anno 1969 selbst die größte Band der Welt begnügen musste.
Das Buch zeigt, wie mühsam der Weg zu neuen Beatles-Songs in dieser Phase war. Immer wieder lenken sich Lennon, McCartney, Harrison und Starr (und an mehreren Studiotagen Billy Preston als Gastmusiker) mit Coverversionen oder spontanen Jams ab, weil sie beim Feilen an ihren eigenen Stücken auf der Stelle treten. Jeder Vorschlag ist potenzieller Sprengstoff für das sensible Bandgefüge. George Harrison, der sich als Songwriter von Lennon und McCartney nicht ernst genug genommen fühlt, steigt zwischendurch sogar hochoffiziell bei den Beatles aus, erst als er von den Bandkollegen besänftigt wird und zurückgekehrt ist, wird die Atmosphäre etwas entspannter. Doch auch dann gilt: Ein ständiger Hang zu Albernheiten (musikalisch und in den Gesprächen miteinander) und bitterböse Anfeindungen und Grabenkämpfe schließen sich in der Spätphase der Beatles keineswegs gegenseitig aus.
Für die Entstehungsgeschichte von Beatles-Klassikern wie Get Back, Let It Be, Something oder The Long And Winding Road ist dieses Buch eine unentbehrliche Quelle, sehr erhellend ist auch die Klarstellung hinsichtlich der Verwertung der Ergebnisse der Sessions: Neben dem (mitunter sinnentstellend geschnittenen) Film Let It Be entsprang diesen Aufnahmen auch das gleichnamige Album, auch wenn sein Erscheinungstermin mehrfach verschoben wurde und Produzent Phil Spector die Originalaufnahmen um viele neue Spuren ergänzte, Songs aus verschiedenen Takes zusammenstückelte und die Reihenfolge der Stücke neu kompilierte. Von der ursprünglichen Idee, nur die vier Beatles live im Studio einzufangen, blieb auf Let It Be nichts mehr übrig. Auch viele der Songs auf Abbey Road (vor Let It Be veröffentlicht, aber später aufgenommen) haben hier ihren Ursprung.
Besonders tragisch an Von Get Back zu Let It Be ist, dass das Buch keineswegs die Geschichte eines steten Niedergangs erzählt, weder im kreativen Sinne noch auf der persönlichen Ebene. Immer wieder sind Keimzellen zu erkennen, aus denen eine neue Karrierephase der Beatles hätte erwachsen können, egal ob es spontane Jams sind oder die zahlreichen Vorschläge, neue Stile (und auch neue Mitstreiter) zu integrieren. George Harrison schwärmt permanent von Bob Dylan und The Band, auch Hard Rock und Synthesizer werden thematisiert.
„Anders als bei ihren früheren Schallplatten, für die sie monatelang im Studio herumtüftelten, bis sie genug Material in hinreichender Qualität zusammen hatten, genügten ihnen diesmal vier Wochen, um in der Summe sehr viel mehr gute Songs fertigzubekommen, als ihnen das jemals zuvor in so kurzer Zeit gelungen war“, betont schließlich auch Rathjen. „Zudem muss man berücksichtigen, dass diese vier Wochen keineswegs optimal genutzt wurden, sondern ein großer Teil der knappen Zeit durch Blödeleien, Streit, unrealistische Planspiele und chaotische Desorganisation verloren ging.“
Sein Buch zeigt, dass die Beatles – so wenig wohlwollend sie später selbst auf diese vier Wochen zurückblicken sollten – nicht an diesen Sessions zerbrochen sind. Als sie die Aufnahmen mit dem legendären Kurzkonzert auf dem Dach des Apple-Studios abgeschlossen hatten, waren sie als Band mindestens so intakt wie am Beginn des Monats, musikalisch hatten sie bewiesen, dass sie weiter zu Großtaten fähig sind. Sie hatten aber auch erkannt, dass diese Großtaten mittlerweile unfassbar viel Mühe, Stress und Kompromisse erfordern – und sie waren mittlerweile durchweg erwachsen, selbstbewusst und reich genug, um sich derlei nicht mehr aussetzen zu müssen.
Bestes Zitat: „Durch den Titelwechsel von Get Back zu Let It Be und die üppigen Zusatzarrangements sieht es für Außenstehende so aus, als habe sich Paul bei dem ganzen Projekt als Schnulzenproduzent (…) in den Vordergrund gedrängt, die anderen gemaßregelt, George vergrault und das Ende der Beatles herbeigeführt. In Wahrheit ist Paul das ganze Projekt, mit dem er eigentlich zum ursprünglichen Rock und zur Gemeinschaft der vier Kumpels zurückfinden wollte, am Ende völlig aus der Hand genommen worden.“