Durchgelesen: Gerhard Haase-Hindenberg – „Der Mann, der die Mauer öffnete“

"Der Mann der die Mauer öffnete" erzählt die Lebensgeschichte des Stasi-Offiziers Harald Jäger.
„Der Mann der die Mauer öffnete“ erzählt die Lebensgeschichte des Stasi-Offiziers Harald Jäger.
Autor Gerhard Haase-Hindenberg
Titel Der Mann, der die Mauer öffnete
Verlag Heyne
Erscheinungsjahr 2007
Bewertung **1/2

Der englische Schriftsteller Samuel Butler hat ein ganz besonderes Verständnis von Geschichte: „Der Unterschied zwischen Gott und den Historikern besteht hauptsächlich darin, dass Gott die Vergangenheit nicht mehr ändern kann.“ So ist es. Und deshalb versucht nach einem epochalen Ereignis eben jeder, die Geschichte ein bisschen in seinem Sinne zu schreiben.

Und vor allem versuchen ganz viele, ein historisches Verdienst für sich zu reklamieren. Und so wird aus Harald Jäger (mithilfe des Journalisten Gerhard Haase-Hindenberg quasi als Ghostwriter) eben laut Buchtitel Der Mann, der die Mauer öffnete und laut Untertitel ein Oberstleutnant, „der den Befehl verweigerte und damit Weltgeschichte schrieb“. Das Vorwort vergleicht den Stasi-Offizier gar mit Stauffenberg.

Nichts daran ist falsch, und trotzdem gebührt das Verdienst, die Mauer geöffnet zu haben, natürlich nicht einem einzigen Mann. Ganz viel musste zusammen kommen, bevor Harald Jäger, der damals die Verantwortung für den Grenzübergang Bornholmer Straße hatte, am 9. November 1989 „die schlimmste und gleichzeitig die glücklichste Nacht in meinem ganzen Leben“ erleben konnte, an deren Ende ganz viele DDR-Bürger einfach so nach West-Berlin spazierten.

Wenn überhaupt, dann waren bei dieser Sternstunde Michail Gorbatschow mit seiner Weitsicht und der Erkenntnis des Nicht-Mehr-Funktionieren des Status Quo das Herz, Christian Führer mit seinem Mut und der Beharrlichkeit bei den Leipziger Montagsdemonstrationen das Hirn und Harald Jäger dann die Hand.

Der Mann, der die Mauer öffnete war Harald Jäger also tatsächlich. Das Buch macht allerdings deutlich: Aus Überzeugung tat er es nicht. Und ein bisschen bleibt auch am Ende von Der Mann, der die Mauer öffnete der Verdacht, dass sich Harald Jäger auch heute noch wünscht, es wäre niemals so weit gekommen. In keinem Moment wird der Held dieses Buches euphorisch, stattdessen macht sich (vor und nach dem 9. November) in seinem Geist „Endzeitstimmung“ breit.

Harald Jäger war Stasi-Offizier, überzeugter Sozialist, stolz auf die DDR, entsprang einer Familie aus strammen Genossen. „Ich wollte wirklich etwas für diesen Staat tun“, erklärt er an einer Stelle seine steile Karriere vom gelernten Ofenbauer zum hauptberuflichen Stasi-Offizier. Jäger glaubt an die militärische Bedrohung aus dem Westen ebenso wie an die wissenschaftliche Gewissheit von der historischen Überlegenheit des eigenen Systems.

Das macht das Buch manchmal zu arg schwerer Kost. Der Autor setzt viel Wissen über die DDR voraus, lässt Jäger im Apparatschik-Jargon sprechen und erschwert die Lektüre noch zusätzlich durch reichlich überflüssige Wechsel zwischen verschiedenen Zeitebenen. Für Wessis oder Nachgeborene dürfte Der Mann, der die Mauer öffnete somit mitunter schwer zu verstehen sein.

Gerade die Innen-Perspektive, mit der Jägers Werdegang manchmal unnötig ausführlich betrachtet wird,  macht aber die letzten drei Kapitel umso spannender: den Abend des 9. November 1989, Jägers Betrachtungen am 3. Oktober 1990 und seinen Rückblick auf die Ereignisse aus dem Jahr 2007. Wie hier aus einer Mischung aus Chaos in der Politik, Feigheit bei den übergeordneten Stellen, voreiligen Interpretationen in den Medien und dem persönlichen Mut eines einzelnen Mannes tatsächlich Weltgeschichte geschieht, ist dann (im Gegensatz zu den vielen Seiten davor) doch spannend und erhellend.

Jäger lässt den Schlagbaum an der Bornholmer Straße letztlich öffnen, weil er keine andere Möglichkeit sieht. Weil er sein ganzes Leben lang ein Mann war, der Recht und Ordnung liebt – und weil er in den Jahren unmittelbar vor dem Mauerfall nach und nach erkannt hat, dass beides in der DDR längst nicht mehr in dem Maße gegeben war, wie auch er es sich gewünscht hätte.

Die beste Stelle schildert Harald Jägers Gedanken am 3. Oktober 1990, dem offiziellen Tag der Wiedervereinigung: „Seit vierzehn Stunden ist Harald Jäger nun das, was er im Gegensatz zu hunderttausenden seiner Landsleute nie werden wollte – ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Das will er auch jetzt nicht sein, wenngleich ihn niemand danach fragt. Er musste das Scheitern seiner Weltanschauung erleben, und er hat nicht vor, nun schon das Hohe Lied der neuen Ordnung zu singen. Harald Jäger hat einen Feind verloren, nicht aber das Feindbild.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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2 Gedanken zu “Durchgelesen: Gerhard Haase-Hindenberg – „Der Mann, der die Mauer öffnete“

  1. Kurzer Hinweis zur Rezension: Da das Buch die Lebensgeschichte fast ausschließlich aus einer Außenperspektive erzählt, bin ich also nicht der Ghostwriter des Harald Jäger, sondern der Autor eines Buches über ihn.

    Gerhard Haase-Hindenberg

  2. Übrigens: Die Dreharbeiten zur Verfilmung dieses Buches wurden soeben beendet. Der Film wird BORNHOLMER STRASSE heißen und wird am 9. November 2014 in der ARD ausgestrahlt.

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