Gunter Gebauer – „Das Leben in 90 Minuten“

Autor Gunter Gebauer

Das Leben in 90 Minuten Buchkritik Rezension Pantheon
Eine Philosophie des Fußballs legt Gunter Gebauer mit „Das Leben in 90 Minuten“ vor.
Titel Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs.
Verlag Pantheon
Erscheinungsjahr 2016
Bewertung

Knapp 20.000 Treffer findet man bei Google, wenn man den Begriff „Denksportler“ in die Suchmaske eingibt. Für das umgekehrte Kompositum, also den „Sportdenker“ sind im gesamten Netz nur rund 200 Seiten zu finden. Und fast alle davon haben mit Gunter Gebauer zu tun.

Er hält seit 1978 den Lehrstuhl für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin, veröffentlichte 2006 Die Poetik des Fußballs und wird unter anderem von Thomas Brussig, immerhin Initiator der deutschen Autoren-Fußballnationalmannschaft, in höchsten Tönen gelobt: „Gunter Gebauer hat die Leidenschaft des Fans, das Wissen einer Enzyklopädie und die gedankliche Schärfe eines Philosophen. Er macht mit den Gedanken dasselbe, was Özil, Götze, Kroos und Müller, trainiert von Jogi Löw, mit dem Ball anstellen. Er kann den Fußball entschlüsseln, ohne ihn zu entzaubern.“

Morgen erscheint mit Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs das neuste Werk von Gunter Gebauer. Es ist ein wunderbares Buch, für Freunde der Philosophie, aber mehr noch für Freunde des reflektierten Umgangs mit Fußball. Es gibt einen szenischen Einstieg, der die Emotionalität des Erlebens im Stadion betont und auch danach immer wieder Momente, die belegen, wie sehr Gebauer dieses Spiel liebt, wie viele glückliche (und wahrscheinlich auch verzweifelte) Momente es ihm schon beschert hat.

Er schafft es tatsächlich, eine wissenschaftliche Monographie zu verfassen, die Lust auf Fußball (vor allem im Stadion) macht und selbst vielen langjährigen Fußballfreunden die Augen für einen neuen Blick auf das Spiel öffnen dürfte. „Im Stadion lebt man in der absoluten Gegenwart“, heißt es beispielsweise auf einer der ersten Seiten. „Dies scheint ein Anachronismus zu sein in einer Zeit, in der sich gemeinsame Präsenz in inselhafte Räume von Individuen auflöst, die telefonieren, ihre Mails checken oder permanent Nachrichten empfangen. In der Hochspannung eines Spiels geschieht das Unerwartete: dass die Anwesenden im gegenwärtigen Moment eingeschlossen sind. In solchen Momenten gibt es nichts Wichtigeres als diese eine Zeit und diesen einen Ort, wo – vielleicht – ein Tor fällt.“

Es ist diese Perspektive des Fans, mit der sich Gebauer natürlich auch angreifbar macht. Auch die Tatsache, dass er die Rolle des Philosophen in Das Leben in 90 Minuten wiederholt verlässt und eher zum Historiker, Kulturwissenschaftler, Soziologen oder eben auch einfach Fan wird, könnten ihm einige strenge Fachkollegen womöglich ankreiden. Gebauer nimmt ihnen allerdings früh den Wind aus den Segeln, und zwar mit einer Konzeption von Philosophie, die sich nicht ausschließlich auf bewusste Akte bezieht und den Körper dem Geist als Instrument zur Seite stellt. Er sieht sich damit in der Gesellschaft von Nietzsche, Weber und Foucault und will den Fußball vor allem auf den Gedanken hin untersuchen, „ob seine Praxis selbst als eine Art des Denkens verstanden werden kann“.

Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs geht dabei scheinbar banalen Fragen nach (Warum darf man auf dem Platz die Hände nicht benutzen? Weshalb flippen wir aus, wenn unsere Mannschaft ein Tor schießt?), ebenso wie zunächst deutlich tiefgründiger wirkenden Betrachtungen (Warum ist diese Sportart gerade in Deutschland so bedeutend? Warum ist Charisma vielleicht ein Körperteil, womöglich sogar einer, mit dem sich Tore erzielen lassen?)

Das deutet schon die Bandbreite an, die Gebauer betrachtet, und praktisch immer bringt er reichlich kluge Gedanken dazu zu Papier. Der Zwist zwischen Profis und Medien gehört ebenso dazu („Der Graben zwischen den Beteiligten und den Kommentatoren in den Medien ist unüberbrückbar. Vielleicht aber befördert gerade dieses Missverhältnis die Popularität des Fußballs, vielleicht ist er schon deswegen so beliebt, weil er sich für Verklärung, Überhöhung und Projektionen so gut eignet.“) wie die Beobachtung, das Stadion sei zum Refugium für das selten gewordene Erlebnis der Unmittelbarkeit geworden. Gebauer legt dabei auch dar, welche Gemeinsamkeiten es zwischen einem perfekt in Szene gesetzten Flutlichtspiel und einer Theateraufführung oder einem Rockkonzert gibt. Er geht der Inszenierung von Images einzelner Spieler, aber auch ganzer Vereine nach, und erklärt, wie der Fußball unsere Vorstellung von Leistung, unser Ideal des Körperbildes oder unser Selbstverständnis als Nation prägt. „Das Ökonomische macht nur einen Aspekt des Fußballs aus: Die spielerische Qualität, die mediale Aufmerksamkeit, das gesellschaftliche Interesse, seine dramatischen Eigenschaften fördern sich gegenseitig. Der Fußball ist zu einem Spektakel geworden, das in konzentriertester Form die Grundmatrix unseres gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens darstellt“, lautet eine seiner Kernaussagen.

Dass Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs ein so großes Vergnügen wird, liegt auch an der sehr gelungenen Form seiner Ausführungen. Eine verständliche Sprache ist längst nicht gängiger Standard in diesem Metier, auch die sehr treffsicher gewählten Abbildungen und ein Register runden das erfreuliche Bild eines Werkes ab, das sich offensichtlich auch als Dienst am Leser versteht. Als besonders wirkungsvoll erweist sich eine Darstellungsform, die man als fingierte Dialoge bezeichnen könnte: Immer wieder stellt Gebauer Fragen an sich selbst, die oft genug die Fragen sind, die genau an dieser Stelle im Kopf des Lesers entstehen, und beantwortet sie dann schlüssig und anschaulich.

Die größte Stärke dieses Buches ist es aber, dass es bei allen gesellschaftlichen Randerscheinungen, die das Phänomen Fußball so schillernd machen und die hier gebührend analysiert werden, immer wieder zum Kern des Themas zurückkehrt: dem Spiel an sich. Gebauer denkt sich in Spieler, Trainer, Fans und sogar in den Ball hinein, betont aber immer wieder das erstaunliche Grundprinzip dieses Sports in all seiner Wirkungsmacht. Es ist die einfache Tatsache, dass Fußball mit dem Fuß gespielt wird. „Im Fußball müssen alle Aufgaben, die gewöhnlich die Hände vollziehen, von den Füßen her neu entworfen werden: Der Körper muss vollkommen umcodiert werden. Alles muss anders gemacht werden als im normalen Leben“, stellt er heraus.

Besonders spannend sind die evolutionären Betrachtungen, die er dabei anstellt. „Was den Menschen in seiner Entwicklung antifragil gemacht hat, wird im Fußball wieder aufgegeben. Mit der Erfindung dieses Spiels wurde das Rad der Menschheitsgeschichte gleichsam um einige Umdrehungen bis zu jenem Entwicklungsstadium zurückgedreht, in dem der Mensch gerade beginnt, seine Hände frei zu gebrauchen“, schreibt er. Von dort schlägt er die Brücke zur Semiotik und Erkenntnistheorie: „Die klassischen Sportarten machen den Menschen primitiver, als er nach dem Stand der technischen Entwicklung sein müsste. Der Fußball geht jedoch weiter als jede andere Disziplin: Er bietet unserer hoch entwickelten Zivilisation eine Erfahrung, die ohne Hand und Wort funktioniert. Sie bezieht sich nicht auf den symbolischen Stellvertreter der Dinge, sondern ist eine Erfahrung von diesen selbst.

Tatsächlich ist laut Gebauer alles, was wir am Fußball lieben, eine Folge dieser heute selbstverständlich scheinenden Idee. Die bedeutende, sogar dominante Rolle des Zufalls, verkörpert durch den Ball. Die Tatsache, dass ein Spiel durch eine Winzigkeit entschieden werden kann. Das diebische Vergnügen, wenn auch die größten Könner gelegentlich Luftlöcher schlagen. Immer wieder betont der Autor mit markanten Formulierungen, wie aberwitzig ein solches Spiel mit den Füßen eigentlich ist, er spricht von der „verkehrten Welt des Fußballs“, einer Anforderung des Regelbuches, die unser Weltbild „vom Kopf auf die Füße“ stelle oder gar von einem „Spiel, das sich gegen die Zivilisation stellt“ oder einer „Rebellion“ gegen ein bestimmtes Menschenbild gleichkomme. Diese Argumentation ist nicht nur einleuchtend, sondern auch bestechend schön – und es ist ein fantastisches Vergnügen, Gebauer beim Auskosten dieses Gedankens zu begleiten.

Bestes Zitat: „Im Grunde weiß jeder, dass die Beherrschung des Zufalls und der Unsicherheit dem Menschen nicht gelingen kann. Wir wissen tief im Innern, ohne es einzugestehen, dass wir uns aus dieser Situation nicht befreien können. Gerade deswegen sind die gelingenden Spielzüge im Fußball kleine Wunder, die uns zeigen, dass eine Gruppe von Menschen es zumindest immer wieder fertigbringen kann. Sie sind keine Verheißung eines höheren Könnens oder einer besseren Welt. Sie öffnen aber einen kurzen Moment lang den Raum der Möglichkeiten für das eigentlich Unmögliche.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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