Autor | Ian McEwan | |
Titel | Der Zementgarten | |
Verlag | Süddeutsche Bibliothek | |
Erscheinungsjahr | 1978 | |
Bewertung |
Zement. Überall Zement. Statt Blumenpracht, blühender Bäume und sattem Grün will Jacks Vater den Garten der Familie zu einer grauen Fläche machen. Denn seine empflindliche Gesundheit erlaubt es ihm nicht mehr, den Garten zu pflegen. Durch eine Zementfläche herrsche aber trotzdem Ordnung rund ums Haus, erklärt er dem Sohn. Als tatsächlich eine riesige Lieferung Zement eingetroffen ist und die beiden gerade ans Werk gehen wollen, bekommt die schwache Konstitution des Vaters den Rest versetzt: Er stirbt an einem Herzinfarkt. Kurz darauf erliegt auch Jacks Mutter ihrem Krebsleiden, das sie jahrelang verheimlich hatte. Der 15-jährige Jack und seine ältere Schwester Julie (17), sowie die jüngeren Geschwister Sue (12) und Tom (6) stehen nun alleine dar.
Statt einen Krankenwagen, die Polizei oder Verwandte zu rufen, beschließen sie, die Mutter eigenhändig im Keller des Hauses zu beerdigen. Sie wird in eine Truhe gelegt und mit dem verbliebenen Zement einbetoniert. Fortan leben die Kinder ohne Erwachsene in einem englischen Vorort. Julie, die als einzige von der schweren Krankheit der Mutter wusste, und Jack, der ein schlechtes Gewissen hat, weil er am Herzinfarkt seines Vaters nicht ganz unschuldig war, übernehmen die Rolle der Eltern, verkleiden ihre jüngeren Geschwister, treiben irgendwie Geld und Lebensmittel auf und genießen die Freiheit.
In beiden Fällen spielt Ian McEwan in seinem Debütroman Der Zementgarten mit dem Referenzrahmen von Normalität: So absurd schon das Wort „Zementgarten“ ist, so schlüssig erscheint diese Lösung für Jacks Vater. So besorgniserregend die Vorstellung von vier Waisenkindern erscheint, die sich ohne Erwachsene in einem einsamen Haus durchs Leben schlagen müssen, so naheliegend wirkt der Gedanke für Jack und seine Geschwister: Sie haben Angst, nach dem Tod der Eltern in Pflegefamilien zu kommen, zudem waren das völlig abgeschiedene Elternhaus („Es gab jetzt nicht einmal mehr einen Milchmann in unserer Straße“, heißt es an einer Stelle) und der enge Kreis ihrer Familie praktisch auch vorher schon ihr gesamtes Universum. Ganz eindeutig leiden sie nach dem Tod der Eltern an einem Trauma, aber ohne dass einer von ihnen etwas davon wüsste – und sogar ohne, dass es sich für sie so anfühlt.
Es ist ein (mindestens) doppelter Zivilisationsbruch, gepaart mit der Konzentration eine sehr kleine Welt (ein Haus und sechs Figuren), der für das Unbehagen bei der Lektüre von Der Zementgarten sorgt. Die Kinder leben nicht nur unter einem Dach mit der verwesenden Leiche ihrer Mutter. Auch sonst stellen sich schnell Verfall und Verwahrlosung ein: In der Küche vergammeln Essen und Müll, der Ich-Erzähler Jack hört auf, sich zu waschen, Julie gibt das wenige Geld, das die Mutter hinterlassen hat, für Extravaganzen aus. Doch auch hier gilt: Von außen sieht das Haus der Familie weiterhin unverdächtig aus, und die neuen Lebensbedingungen im Haus erscheinen den Kindern ebenfalls als genau richtig, weil sie von ihnen selbst geschaffen wurden. Erst als Julie einen Flirt mit Derek beginnt, einem jungen Mann aus der Stadt, sind die Kinder wieder mit so etwas wie Regeln und Konventionen konfrontiert.
Derek wird für Jack zum Konkurrenten, denn – mit diesem Inzest führt Ian McEwan den zweiten Zivilisationsbruch ein – er begehrt Julie selbst. Diese Konstellation macht Der Zementgarten zu einem der wahrscheinlich beunruhigendsten Bücher, die es über die Pubertät gibt. Jack und Julie ahnen, wie wichtig diese Lebensphase für sie ist, wie viele Weichen für ihre Zukunft und ihre Persönlichkeitsentwicklung in dieser Zeit, bewusst und unbewusst, gestellt werden. Doch sie haben keine Erwachsenen, die ihnen Orientierung geben könnten, sondern nur die ungebremste Kraft der Adoleszenz, die sie steuert. Sie sind voll und ganz auf ihr Geschlecht (im Sinne von Familie/Abstammung und im Sinne von Trieb/Sex) zurückgeworfen, und dass beide Bedeutungsvarianten hier zusammentreffen, macht dieses Buch so unheilvoll.
Bestes Zitat: „Tom trug ein orangenes Kleid, das mir bekannt vorkam, und irgendwo hatten sie eine Perücke aufgegabelt. Sein Haar war blond und dicht gelockt. Wie leicht es war, jemand anderer zu sein. (…) Es sind nur Kleider und eine Perücke, dachte ich, Tom ist verkleidet. Aber ich sah eine andere Person, jemand, der ein ganz anderes Leben als Tom vor sich hatte.“