Autor*in | Jens Balzer | |
Titel | Pop. Ein Panorama der Gegenwart | |
Verlag | Rowohlt Berlin | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Bewertung |
So etwas nennt man wohl einen „berufenen Mund“. Jens Balzer hat sich einst bei Spex als Pop-Experte hervorgetan, mittlerweile gilt er als „der Pop-Kardinal der Berliner Zeitung“ und „Der Mann, der alles weiß“ (sagt selbst die Konkurrenz vom Tagesspiegel). Er hat an Büchern über Tocotronic und Can mitgearbeitet, ist Kolumnist beim Rolling Stone und lehrt als Dozent für Popkritik an der Universität der Künste in Berlin.
Als Autor für eine Pop-Gesamtbetrachtung qualifiziert den 1969 geborenen Balzer auch, dass er nicht wie viele andere Kritiker vom Schreibtisch und Plattenspieler aus die Musikwelt betrachtet, sondern tatsächlich in sie eintaucht, als Konzertbesucher und Club-Gänger, nicht zuletzt als Gesprächspartner der Künstler.
Sein Buch Pop. Ein Panorama der Gegenwart, das er übermorgen in der Kantine am Berghain vorstellen wird, zeigt zudem auf erfreuliche Weise, dass er Pop nicht nur als Seismograph der Welt begreift, sondern auch als Ganzes betrachtet. Es geht in diesem Werk „nicht allein um das Hören und das Gehörte, um Musik und Rhythmen, Melodien und melodiefreien Krach – sondern genauso um Körperlichkeit, um Erotik und um die Bilder der Welt, die sich in all diesen Facetten des Pop widerspiegeln“, schreibt er zu Beginn.
Darin gleicht er dem Ansatz von Diedrich Diederichsen, der unlängst mit Über Pop-Musik ein thematisch ähnliches Buch vorgelegt hat. In einem Punkt fällt allerdings sofort ein beträchtlicher Unterschied der Pop-Großdenker auf: Während Diederichsen Pop anscheinend retrospektiv als eine weitgehend abgeschlossene Epoche betrachtet, legt Balzer den Fokus auf die Gegenwart. Mehr noch: Er glaubt an Pop, auch daran, dass er sich noch entwickelt und eine Zukunft haben wird.
Auch diese Mentalität trägt dazu bei, dass er in Pop. Ein Panorama der Gegenwart einige interessante Gedanken entwickeln kann. Sehr erhellend ist beispielsweise, wenn er den Zusammenhang zwischen Lana Del Rey, Unheilig und Justin Bieber nachzeichnet. Jens Balzer erkennt auch darüber hinaus viele besondere Momente, beschreibt sie schön und reflektiert sie wiederholt sehr reizvoll. Allerdings überschätzt er oft, wie exemplarisch sie sind. Dieser Eindruck kommt vielleicht auch dadurch zustande, dass Balzer im Buch offensichtlich (und, das soll betont werden, legitimerweise) Gedanken aus seinen bereits veröffentlichten Platten- und vor allem Konzertrezensionen recycelt.
Der Mut zur steilen These und klaren Position trägt allerdings beträchtlich zum Unterhaltungswert des Buchs bei. Die Lektüre ist vor allem dann ein Genuss, wenn der Autor gemein ist, wie in seiner Phänomenologie schlechter Konzerte von Beyoncé bis Sting. Extrapunkte gibt es auch für die sagenhaft verschwurbelten Kapitelüberschriften (Elektrische Schafe träumen von Céline Dion: Grimes, Holly Herndon und die Tücken des Digitalfeminismus oder aber Hermaphroditische Backenhörnchen auf Metamphetamin: Skrillex, Flying Lotus, PC Music und die Ästhetik der Hyperbeschleunigung sind nur die schillerndsten Beispiele). Wiederholt zeigt Balzer auch recht spannende Verknüpfungen zwischen Popmusik und politischem Zeitgeist auf.
Eher irritierend sind hingegen seine fast zwanghaft wirkenden Versuche, in jedem Genre eine Erotik zu entdecken, besonders gerne eine sadistische/masochistische. Das größte Problem von Pop. Ein Panorama der Gegenwart ist allerdings, dass Balzer sein Sujet nirgends definiert. Einzig der Zeitrahmen wird recht klar abgegrenzt, er lässt sein „Panorama der Gegenwart“ circa 2001 beginnen. Aber was meint er mit Pop? Was gehört dazu und was nicht? Diese zentrale Frage bleibt offen, und daran krankt dieses Buch in mehrfacher Hinsicht.
Mal geht es um Massenwirkung von Popstars bis hinein in die Boulevardzeitungen und Frauenzeitschriften, mal nur um Nischen, die allenfalls in Blogs oder im Feuilleton eine halbwegs relevante Aufmerksamkeit erhalten. Manchmal scheint der künstlerische Wert für das hier zutreffende Verständnis von Pop der Maßstab zu sein, manchmal auch die Verkaufszahlen, und so gelten in diesem Buch so unterschiedliche Acts wie Sunn O))) und Helene Fischer, Antony und Rammstein als exemplarisch.
Auch Archie Bronson Outfit, Kode9, Kelela oder Espers werden als prägende Figuren des Pop aufgegriffen, obwohl sie im Hinblick auf ihren Bekanntheitsgrad höchstens Randfiguren sind. Balzer scheint dieses Problem selbst klar zu sein, versucht er für sein Pop-Kriterium doch Hilfsgrößen wie „Superstars der geschmacklich aufgeschlossenen Popmusikwelt“ oder „Mainstream der Minderheiten“ zu etablieren. Gerade durch diesen nicht klar geschilderten Bezugsrahmen macht er sich allerdings angreifbar und lässt manch gewagte These noch obskurer erscheinen.
Zwischen Nirvana und den Strokes habe es keine Mainstream-Rockbands mehr gegeben, lautet eine dieser Thesen. Da hat wohl jemand noch nichts von den Red Hot Chili Peppers gehört, die in dieser Zeitspanne insgesamt mehr als 23 Millionen Exemplare von One Hot Minute und Californication verkauften. Oder von Oasis, die in den Jahren zwischen 1994 und 2001 vier Alben auf Platz 1 der UK-Charts brachten, drei davon auch in Deutschland und zwei davon auch in den USA in die Top 10.
Auch nach den Strokes sei die klassische, männlich geprägte Gitarrenband quasi verschwunden, meint Balzer, offensichtlich diverse Nu-Metal-Größen, die in der Zeit ab der Jahrtausendwende am erfolgreichsten waren, ebenso ignorierend wie spätere Acts wie Mumford & Sons, Linkin Park oder Coldplay, die seitdem weltweit oben in den Jahrescharts landeten, mit einer Musik, die eindeutig von Gitarrensound und Rockgestus geprägt ist.
Das ist nur ein eklatantes Beispiel für ein Problem dieses Buchs: Die wichtigste Kenngröße von Pop scheint für Jens Balzer die eigene Vorliebe und das eigene Erleben zu sein. Das sind vielleicht gute Ausgangspunkte für eine Konzert- oder Plattenkritik, aber es ist ein etwas wackliges Fundament für eine globale Betrachtung des Pop. So werden Meinung und Analyse nicht klar genug getrennt, oft gibt es leider nur Ersteres. Auch darin zeigt sich ein auffälliger Unterschied zu Diedrich Diederichsens Über Pop-Musik: Dessen Buch hat nicht nur einen größeren Horizont und mehr intellektuellen Tiefgang, sondern bietet vor allem mehr Nachvollziehbarkeit, weil Argumente und Termini klarer sind.
Balzer will aus guter Musik stets eine Szene, Bewegung und Verbindung zum Weltgeschehen ableiten, statt einen grandiosen Song oder ein klasse Album auch einmal für sich stehen zu lassen, als Monolith. Dieser Effekt scheint sogar umgekehrt zu gelten: Musik, die nicht taugt, um eine Szene oder einen Trend zu begründen, ist für ihn offensichtlich automatisch weniger interessant. Was er nicht wahrnimmt (auch, weil es zugegebenermaßen nicht sein Thema ist), ist das Konstante, das Grundrauschen; etwas, das man Gebrauchspop nennen könnte. Kategorien wie „schön“ oder „unterhaltsam“ haben bei ihm kein Gewicht, auch die Unmittelbarkeit, die vielen Hits zueigen ist, spielt hier keine Rolle. Pop muss bei Jens Balzer reflektiert werden und kontextualisierbar sein, um Wertschätzung zu erfahren.
Auch mit dieser Eigenheit untergräbt er mitunter seine eigenen Kernthesen. Da ist erst vom Verschwinden der Männer im Pop die Rede, um dann an prominenter Stelle dem prägenden Einfluss von Drake, Freiwild oder Kendrick Lamar zu huldigen, weil sie sich eben gut zum Kontextualisieren eignen. Da diagnostiziert der Autor erst eine „Welt, in der jede erdenkliche Musik aus jeder Zeit jederzeit verfügbar ist“, was zum „Sieg der Gegenwart über die Vergangenheit und die Zukunft und alle anderen Zeitlichkeiten“ führe, will dann aber ständig Trends, Entwicklungslinien, Cliquen und Szenen konstruieren, deren Existenz (oder zumindest Zusammenhang und Kausalität) man inmitten dieser digitalen Ära der Gleichzeitigkeit und Verfügbarkeit von allem mit einigem Recht hinterfragen kann. Wahrscheinlich ist es mit diesen Lieblingskindern des Pop-Feuilletons wie mit der Wirkungsmacht des Pop insgesamt: Man muss halt dran glauben.
Bestes Zitat: „Der Pop der Gegenwart wird von gebrochenen Ich-Identitäten bevölkert – und von Freaks, die sich entschlossen der Identifizierung verweigern. (…) Er handelt von der Suche nach einem immer wieder neuen Verhältnis zwischen dem Ich und der restlichen Welt.“