Autor | Jimi Hendrix | |
Titel | Starting At Zero | |
Verlag | Heyne | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
Auf dem Einband fehlt das Wort noch, aber im Klappentext hat sich der Verlag dann doch getraut. Da steht es, in der vorletzten Zeile: „Autobiografie“. Wie soll das gehen? Wie soll Jimi Hendrix, tot seit dem 18. September 1970, seine Autobiografie schreiben? Ist da irgendwo ein altes Manuskript aufgetaucht, von dem man nicht wusste? Hat da jemand als Medium die Stimme aus dem Jenseits vernommen und prompt alles zu Papier gebracht?
Nichts da. Starting At Zero ist eine „posthum zusammengestellte Autobiografie“. Das bedeutet: Das Buch besteht ausschließlich aus Jimi-Hendrix-Texten, also Zitaten aus Interviews, Notizen, Tagebucheinträgen und nicht zuletzt Passagen aus seinen Songtexten. Alle Aussagen sind verbürgt, und auch den Liedzeilen kann man durchaus einige Aussagekraft über das Leben und Wesen ihres Autors attestieren. Person und Musik bildeten bei ihm eine untrennbare Einheit, hat Jimi Hendrix immer betont: „Musik ist mein ganzes Leben. Für mich gibt es nur die Musik und das Leben, mehr nicht, und beide Elemente fließen so eng zusammen, dass sie fast parallel verlaufen“, heißt es an einer Stelle.
Für die Auswahl und Zusammenstellung der Zitate waren Hendrix’ Rechteverwalter Alan Douglas (über das Recht, dieses Buch veröffentlichen zu dürfen, gab es einigen Streit mit der Familie Hendrix) und Filmemacher Peter Neal (der 1967 den ersten Hendrix-Film Experience gedreht und Starting At Zero eigentlich als Dokumentarfilm geplant hatte) zuständig. Sie haben ihre Aufgabe gut gelöst: Starting At Zero liest sich flüssig, ist unterhaltsam und erhellend. Und nicht zuletzt begründen Douglas und Neal mit der Form der „posthum zusammengestellten Autobiografie“ ein ganz neues literarisches Genre.
Das passt durchaus zu Jimi Hendrix, dem größten Gitarristen aller Zeiten. Der „intergalaktische Electric Wizard“ (so hat ihn sein Biograf Klaus Theweleit einmal genannt) suchte immer das Neue, das Epochemachende, er erwartete und brauchte es. Seine ganze Karriere, nicht nur die Musik, war ein einziges, wagemutiges Experiment.
Die wichtigsten Etappen dabei zeichnet Starting At Zero chronologisch und erstaunlich vollständig nach. Hendrix erlebt eine schwierige Kindheit in Seattle, die Eltern trennen sich, er ist oft bei seinen Großeltern in einem kanadischen Indianerreservat. Mit 17 fliegt er von der Schule, wenig später beendet eine Knöchelverletzung seine Karriere bei den Fallschirmjägern. Nach der Army zieht er umher, oft ohne Dach überm Kopf oder Essen im Magen, aber immer mit Gitarre. Erste Jobs hat er als Begleitmusiker, etwa für Isley Brothers und Little Richard, bei denen er das Musikgeschäft von der Pieke auf lernt. Auf Einladung von Chas Chandler (The Animals) kommt er nach England, wo er 1967 einen kometenhaften Aufstieg hinlegt. Noch im selben Jahr wird er zum „größten Musiker der Welt“ gewählt, er erobert seine amerikanische Heimat im Sturm, prägt die Hippie-Ära und ist vier Jahre nach seinem Durchbruch tot.
„Außer der Musik hat mich nie irgendetwas wirklich interessiert. Ich wollte so spielen wie Chuck Berry und Muddy Waters und alles lernen, was es darüber zu lernen gab“, sagt Hendrix, und dieses Buch macht eindrucksvoll klar, dass das keine hohle Phrase ist. Hendrix ist rastlos und besessen. Er ist rund um die Uhr Musiker, nicht nur auf der Bühne und im Studio. Man ahnt bei der Lektüre bald, dass er wohl auch in Träumen, Gesprächen und womöglich sogar beim Sex an Musik und seine Gitarre dachte – und dass er, während er einen Song spielte, sich immer schon einen neuen ausdachte.
Blues ist die Wurzel seines Schaffens, aber schon bald interessiert er sich für jede Menge andere Genres und vor allem für: Freiheit, Entfaltung, Entdeckung. Dazu passt sein Tüfteln an neuen Sounds, Effekten, Geräten. Dazu passt auch, dass er Grenzüberschreitungen auch in anderen Lebensbereichen liebte, etwa hinsichtlich seiner Drogen- und Frauengeschichten.
Das Buch hat zwar viel Introspektive zu bieten (und außerdem wunderschöne Illustrationen von Bill Sienkiewicz), geht über diese Themen aber meist großzügig hinweg. Was bei dieser Form naturgemäß fehlt, ist der Charakter einer Aufarbeitung. Natürlich sagt Jimi Hendrix nichts Negatives über sich selbst, es gibt keine Enthüllungen und keine schmutzige Wäsche. Auch sein Niedergang lässt sich anhand der im Buch versammelten Aussagen kaum erkennen und schon gar nicht erklären (auch wenn es in Starting At Zero einige Anspielungen auf einen frühen Tod gibt). Kritik und Selbstkritik finden nicht statt, eben weil hier das Element der Retrospektive fehlt, das normalerweise einer (Auto-)Biografie zu eigen ist.
Immerhin werden aber Widersprüche deutlich. Hendrix ist nach eigener Aussage (zumindest am Beginn seiner Laufbahn) kein gläubiger oder politischer Mensch, aber er sieht dennoch immer die spirituelle und gesellschaftliche Ebene von Musik. Den von ihm propagierten Idealen wie Reinheit und Aufrichtigkeit kann er in vielen Lebensbereichen nicht gerecht werden. Und schließlich wird er in seinen letzten Lebensjahren prätentiös, mitunter selbstgerecht. Starting At Zero zeigt: Am Anfang ist er ein Lernender, dann (etwa ab 1968) geriert er sich als Prophet. Er spricht nicht mehr von sich, sondern vom ganzen Land, einer ganzen Generation, sogar dem gesamten Universum. „Gott ist für meinen Erfolg verantwortlich. Er ist für alles verantwortlich. Ich höre seine Botschaft, und ich bin ein Botschafter Gottes“, behauptet er.
Solche Aussagen lassen ihn als verrückt erscheinen, zugleich unterstreichen sie die ungeheure Bedeutung, die Jimi Hendrix der Musik (nicht nur seiner eigenen) beimaß. „Ich spiele und bewege mich so, wie ich mich fühle. Das ist keine Show. Meine Musik, mein Instrument, mein Sound und mein Körper bilden mit meinem Geist eine Einheit. Die Musik macht mich high – gute Musik ist wie ein schneller und gleichzeitig lange anhaltender Rausch“, erklärt er. Diese obsessive Fixierung und unbedingte Identifikation mit seinem Schaffen beweisen vor allem seine späteren Aussagen aus einer Zeit, in der sein ganz großer Erfolg schon vorüber war: Was ihn am Ende seines Lebens am meisten marterte, waren nicht Drogen-, Frauen- oder Geldprobleme, sondern musikalischer Stillstand und die Erkenntnis, dass er (trotz all seines Ruhms und Talents) seinem eigenen musikalischen Anspruch nicht gerecht werden konnte. Dass er immer von einem Song träumte, den es noch nicht gab.
Bestes Zitat: „Das einzige Glück, das ich kenne, kann man in der Hand halten.“