Autor | John Jeremiah Sullivan |
Titel | Pulphead |
Verlag | Edition Surhkamp |
Erscheinungsjahr | 2011 |
Bewertung | **** |
Ein Star-Autor. So muss man John Jeremiah Sullivan wohl nennen. Als Reporter für das New York Times Magazine, GQ oder Harper’s Magazine hat sich der Journalist einen Namen gemacht. In Pulphead versammelt er fünfzehn Texte aus den Jahren 1999 bis 2011. Es sind „ein paar sehr, sehr gute, wahre, berührende Geschichten darüber (…), was es heißen kann, heute zu leben, und zwar nicht nur in Amerika“, hat die Süddeutsche Zeitung den Inhalt ganz treffend eingeordnet.
Natürlich liest man einen Star-Autor aber nicht (nur) wegen seiner Themen, sondern wegen seiner Schreibe. Und da offenbart sich Sullivan auch in der deutschen Übersetzung als ein Künstler, der meisterhaft die Möglichkeiten von Sprache und Text auslotet. In der ersten Geschichte, Auf diesen Rock will ich meine Kirche bauen, kann man ihn ein paar Seiten lang für einen Gonzo-Journalisten halten. In anderen Texten baut er ausgedachte Passagen ein, um dann erst ganz am Ende darauf hinzuweisen, dass sie ausgedacht waren. Immer wieder glänzen seine Geschichten mit Humor, Ironie und manchmal auch ein bisschen Zynismus. Und Sullivan schafft es stets, seinem Leser das Geschehen direkt vor Augen zu stellen. Nicht unbedingt, weil er extrem viel beschreibt, sondern weil er genau auswählt. Nicht, weil er extrem viele Bilder benutzt, sondern extrem treffende.
Seine größte Stärke ist aber etwas anderes, nämlich: John Jeremiah Sullivan. Ganz viel Ich steckt in Pulphead, und das meint nicht nur die Erzählperspektive. Der Autor bringt sich ganz ein, mit biografischen, privaten, sogar intimen Details. All das passiert nicht aus Narzissmus, sondern weil sich Sullivan ganz oft in Konfliktsituationen begibt und zeigen will, wo er darin steht. Denn viele der Texte behandeln Grundsatzfragen von Religion, Politik und Moral.
Auch dabei ist seine Subjektivität hilfreich, denn unverkennbares Leitmotiv in Pulphead ist die Suche nach Erkenntnis und Wahrheit. Wiederholt beschäftigt sich Sullivan mit Geschichte, in einem Beitrag sogar mit Archäologie. Klarer könnte die Botschaft nicht sein: Er sucht den Ursprung, den Kern der Dinge – und er weiß, dass er dazu nicht nur Recherche braucht, sondern auch Reflexion und Intuition, also sein Wesen, seine Persönlichkeit. „Immer ist sein Ich ein Mittel, die Welt zu ergründen“, hat Georg Diez im Spiegel diese Methode umschrieben.
Das Ergebnis sind Texte zwischen Literatur und Journalismus, Erzählung und Reportage. Natürlich stellt sich John Jeremiah Sullivan damit in die Tradition des New Journalism, und er gibt keine schlechte Figur ab in dieser Ahnenreihe. „David Foster Wallace und Hunter S. Thompson sind tot, Tom Wolfe ist so gut wie in Rente – es gibt also nicht mehr viele Autoren, die genügend Mumm und Grips haben, um es mit unserer Kultur aufzunehmen – die sich nicht von dem ganzen Schwachsinn einschüchtern zu lassen. Sullivan ist einer von ihnen“, hat das Time Magazine immerhin anerkannt.
Eine besondere Freude ist die Lektüre von Pulphead für Musikfans. Sullivan bewegt sich auf den Spuren von Axl Rose, Michael Jackson und Bob Marley, er sucht nach dem Wesen des Blues und berichtet von einem Rockfestival für christliche Musik. Auch darin zeigt er, wie sagenhaft tief er seine Themen durchdringt – auch hier nicht nur durch akribisches Faktensammeln, sondern ebenso durch Leidenschaft, Enthusiasmus, gelegentlich gar Bewunderung für sein jeweiliges Thema. „Das Buch illustriert, was Journalismus im besten Fall zu leisten im Stande ist und dass Musik, im richtigen Kontext betrachtet, die Welt nicht nur verschönern, sondern auch erklären kann“, lautet ein Lob vom ORF für diese Sammlung.
Auch dadurch wird Pulphead so etwas wie ein sehr gelungener Longplayer: hoch unterhaltsam, sehr intelligent und oft bewegend.
Bestes Zitat: „Mir kommt es so vor, als bestünde ein großer Teil der Bemühungen von uns Eltern darin, unsere Kinder vor uns selbst zu schützen.“