Autor*in | Julian Barnes | |
Titel | The Noise Of Time | |
Verlag | Vintage | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Bewertung |
Ignoriert man vor der Lektüre den Klappentext (was fast immer eine gute Idee ist), dann dauert es eine ganze Weile, bis man erkannt hat, wer die Hauptfigur in The Noise Of Time ist: Der Musiker, der hier im Mittelpunkt steht, ist zu Beginn des Romans 30 Jahre alt, hat Frau und Tochter und lebt in Moskau. Man weiß nicht viel von ihm, außer dass er ein labiler, verunsicherter Charakter ist („He was an introverted man who was attracted to extroverted women. Was that part of the trouble?“, fragt er sich an einer Stelle). Und dass er Angst vor Verhaftung hat, nicht nur abstrakt, sondern so ausgeprägt, dass er jede Nacht im Hausflur bereit steht, mit gepacktem Koffer, damit die Behörden ihn möglichst geräuschlos mitnehmen können. Das ist spannend genug, bis sein äußerst prominenter Name dann auftaucht und noch einmal eine neue Note einbringt: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch.
Wir begegnen dem Komponisten, einem der größten russischen Künstler des 20. Jahrhunderts, im Jahr 1936. Schostakowitsch kämpft mit den Folgen eines vernichtenden Artikels in der Prawda. Die Aufführung seiner zweiten Oper missfiel der Kritik, ausgerechnet ein Konzert, bei dem Stalin zugegen war, wird nun öffentlich zerlegt, offensichtlich mit dem Segen der obersten Partei-Riegen. Der Komponist muss davon ausgehen: Die Beurteilung seines Werks, das nicht nur als künstlerisch minderwertig, sondern auch als politisch unzuverlässig abgetan wird, bedroht nicht nur seine gesamte Karriere. Denn seit Stalin an der Macht ist, gibt es nur noch zwei Arten von Komponisten in der Sowjetunion, hat er festgestellt: „Those who were alive and frightened, and those who were dead.“ Verhaftung, Verhör, Verschleppung; Denunziation, Folter, Gulag – Schostakowitsch kennt genug Kollegen, die dieses Schicksal erfahren haben. Er hat Todesangst.
Von diesem Punkt aus entwickelt Julian Barnes, der für den 2011 erschienenen Vorgänger Vom Ende einer Geschichte mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde, nachdem es zuvor schon drei andere Werke von ihm auf die Shortlist geschafft hatten, eine meisterhafte fiktionale Biographie. Die schwierige Quellenlage spielt ihm dabei in die Karten. „All this is highly frustrating to any biographer, but most welcome to any novelist“, schreibt der 1946 geborene Engländer in seinen Anmerkungen über den Umstand, dass die Lebensdaten seines Helden vom genauen Studium der Akten in den Archiven manchmal nicht erhellt, sondern eher zusätzlich verkompliziert werden. In der Tat beweist er in The Noise Of Time, dass für ein gelungenes Buch dieses Genres nicht eine detailgenaue Kenntnis der Fakten entscheidend ist, sondern der Blick auf das Wesen einer Figur und auf den Kern des Konflikts, den sie ausficht. Im Falle von Schostakowitsch ist dies der Widerstreit von Kunst und Diktatur, die Unmöglichkeit ihres Zusammengehens.
Barnes erzählt distanziert und oft ironisch, trotzdem entwickelt The Noise Of Time eine große emotionale Stärke. Grandios ist die Auswahl der drei Lebensphasen, die der Autor für das gerade 180 Seiten umfassende Werk ausgewählt hat: Nachdem er die Folgen des misslichen Prawda-Beitrags irgendwie überstanden hat, begegnen wir dem Helden wieder im Jahr 1948. Er kommt gerade von einer Reise in die USA zurück, wo er den Auftrag hatte, die kulturelle Blüte der Sowjetunion zu verkörpern und, stets bestens bewacht vom Geheimdienst, ausschließlich systemkonforme Aussagen in die Mikrofone amerikanischer Reporter zu sprechen. Der dritte Teil springt noch einmal zwölf Jahre nach vorne, der mittlerweile in die Jahre gekommene Komponist ist ein hoch dekorierter Würdenträger seines Landes, kämpft aber noch immer mit der Frage, ob sich Kreativität und Individualität mit Assimilation und Totalitarismus vereinbaren lassen. Hat er es geschafft, seinen Idealen halbwegs treu zu bleiben? Oder ist er längst ein Scherge eines Systems, dessen Schattenseiten er am eigenen Leib nur allzu gut kennen gelernt hat?
Wie eindrucksvoll es dem Autor – wohlgemerkt ein Mann aus einer liberalen Kultur, der gerade einmal Teenager war, als Schostakowitsch sein Spätwerk verfasste – gelingt, sich in die Gedankenwelt eines alten Mannes zu versetzen, der sein gesamtes Leben in autoritären Systemen verschiedener Ausprägungen verbracht hat, ist auch ohne die vollendete Form, die Barnes dafür in The Noise Of Time findet, bereits eine erstaunliche kreative Leistung. Diese gelingt ihm, weil er letztlich zu Fragen vordringt, die für Bildhauer ebenso relevant sind wie für Dichter, für Maler so wichtig wie für Musiker: Was macht einen Künstler aus? Wie muss sich sein Werk gegenüber seiner Person und seiner Moral verhalten? Kann eines davon unabhängig vom anderen einen Wert haben?
Diese Fragen martern Schostakowitsch, die fast leitmotivischen Gedanken an Selbstmord trotz des Wissens um die eigene Feigheit belegen das, spätestens seit dem erwähnten Prawda-Artikel. Die Flucht in die Welt der Noten („Let power have the words, because words cannot stain music. Music escapes from the words: that is its purpose, its majesty“, ist eine der schwämerischen Stellen, in der deren Kraft beschworen wird) ist dabei schnell keine Option mehr: Er will komponieren und muss sich dafür korrumpieren.
Die unmittelbare Gefahr für sein eigenes Leben und die Sorge um seine Familie werden dabei nach und nach abgelöst von einem kaum weniger bedrückenden Thema: dem Zweifel an der eigenen Integrität. Darf man den Vorgaben der Machthaber entgegenkommen, um überhaupt weiter künstlerisch tätig sein zu können? Um vielleicht für ein bisschen Ablenkung in einem Klima der Angst zu sorgen, womöglich gar den einen oder anderen versteckten Seitenhieb gegen das Regime in sein Werk integrieren zu können? Oder verbietet der eigene ästhetische Maßstab derlei Anpassung? Hinter diesem zentralen Koflikt von The Noise Of Time steht letztlich die sehr grundsätzliche Frage, wem die Deutungshoheit über ein Kunstwerk zukommt. Dem Komponisten? Dem Staat? Dem Publikum? Der Nachwelt? Julian Barnes beantwortet diese Frage nicht explizit – für die Kraft, Würde und Einzigartigkeit eines Autors ist sein Roman aber ein vortreffliches Plädoyer.
Bestes Zitat: „This was how you should love – without fear, without barriers, without thought for the morrow. And then, afterwards, without regret.“