Autor | Julio Cortázar | |
Titel | Der Verfolger | |
Verlag | Süddeutsche Bibliothek | |
Erscheinungsjahr | 1958 | |
Bewertung |
„In memoriam Ch. P.“, lautet die Widmung zu Beginn dieses Buches, und es wäre auch ohne diesen Hinweis nicht schwer gewesen, Charlie Parker als Vorlage für die Titelfigur von Der Verfolger zu erkennen. Drei Jahre nach dem Tod des legendären Musikers stellt Julio Cortázar ebenfalls einen virtuosen Jazz-Saxofonisten in den Mittelpunkt seiner Handlung. Johnny Carter heißt er, ist ein begnadeter Hallodri und während einer Tournee gerade bei einem Zwischenstopp in Paris gelandet (übrigens auch die Wahlheimat des Autors).
Johnny Carter sucht in seiner Musik auf fast manische Weise nach der Innovation, dem Neuen, nie Dagewesenen. Auch im Leben kennt er kein Maß: Drogen, Affären und Selbstzerstörung begleiten ihn. Wie wenig vernünftig er ist, weiß der Musiker selbst: „Um die Wahrheit zu sagen, ich habe mein Gehirn nie gebraucht. Erst von den Augen abwärts verstehe ich, und je weiter unten, desto besser“, sagt er an einer Stelle des Büchleins. An seinem Ruf als Genie, Erneuerer und Jahrhunderttalent ändert das freilich nichts. „Seit Johnny dazu übergegangen ist, Altsaxophon zu spielen, kann man die alten Altsaxophonisten nicht mehr hören und meinen, sie seien das Nonplusultra; man muss sich damit abfinden und zu dieser Art verhüllter Resignation greifen, die sich historische Bedeutung nennt, man muss sich sagen, dass jeder dieser Musiker großartig gewesen ist, und es noch immer ist, doch in seiner Zeit. Johnny ist für den Jazz der gewesen, der eine neue Seite aufschlägt, und damit basta“, fasst Cortázar seinen Status an einer Stelle zusammen.
Die erste große Stärke von Der Verfolger ist die leicht surrealistische Pracht, mit der er die Kraft der Musik beschreibt, die Johnny Carter entstehen lässt. Man muss kein Jazz-Fan sein, um sich an den höchst poetischen Passagen ergötzen zu können, in denen der Autor die Sternstunden seines Helden auf Papier bannt. „Eine Prosa, die die Sprache hüpfen, tanzen und fliegen lässt“, hat Octavio Paz seinem argentinischen Kollegen attestiert, mit Mario Vargas Llosa outet sich noch ein weiterer Nobelpreisträger als Fan, der Cortázars Erzählungen in einem verwirrenden Zwischenbereich ansiedelt, „in dem das Wirkliche und das Phantastische sich überlagern, ohne sich zu vermischen“. Beide Effekte kann man in Der Verfolger gut nachvollziehen.
Noch eindrucks- und wirkungsvoller ist aber die Erzählerposition, die der Autor wählt. Sein Ich-Erzähler ist Bruno, ein Musikkritiker, der zugleich ein enger Freund von Johnny ist und zudem an einer Biographie über ihn arbeitet. Es ist diese Zwischenposition, aus der die Geschichte ihren Reiz bezieht. Johnny leidet an seinem Genie, aber alle um ihn herum (inklusive Bruno) zehren davon – und beide Parteien wissen sehr genau um das destruktive Potenzial dieser Konstellation. Bruno seinerseits ahnt, dass gerade im möglicherweise Fatalen der Quell für die Einzigartigkeit dieses Musikers liegt. „Ich beneide Johnny, diesen Johnny der anderen Seite, ohne dass jemand genau wüsste, was diese andere Seite ist. Ich beneide alles außer seinen Schmerz, was jeder verstehen wird, doch noch in seinem Schmerz muss es Spuren von etwas geben, das mir versagt bleibt“, gesteht er an einer Stelle.
Er ist somit hin- und hergerissen zwischen seinen Rollen als Freund und Fan: Eigentlich müsste er Johnny vor Drogen, Katastrophen und Übermut bewahren, zugleich ist ihm klar, dass er damit vielleicht das Elixier rauben würde, aus dem sich das Genie des Musikers speist. Die Verantwortung für die Gesundheit und das Glück seines Freundes konkurriert mit der voyeuristischen Faszination, einen Menschen beim Ausloten aller Grenzen zu beobachten – wohl wissend, dass er dabei auch zu weit gehen und sich endgültig ruinieren könnte. Dazu kommt der, freilich nicht eingestandene, egoistische Aspekt, dass Bruno als Vertrauter und Biograph des Musikers von jeder neuen Eskapade profitiert, denn ihm bietet sich die exklusive Möglichkeit, im engsten Zirkel des Enigmas zu verkehren. Sein Gewissen ist deshalb nicht so zerrüttet wie das Wesen von Johnny Carter/Charlie Harper, aber auch die Parallelen zu etlichen seiner Nachfahren im Geiste wie Jimi Hendrix, Brian Jones, Kurt Cobain oder Amy Winehouse machen Der Verfolger zu einer äußerst faszinierenden Lektüre.
Im besten Zitat stellt Cortázar klar, dass „Johnny kein Opfer ist, kein Verfolgter, wie alle Welt glaubt, und wie ich es selbst in meiner Biographie habe durchblicken lassen (…). Jetzt weiß ich, dass es nicht so ist, dass Johnny der Verfolger und nicht der Verfolgte ist, dass all das, was ihm im Leben zustößt, die Missgeschicke eines Jägers sind und nicht die eines gehetzten Tiers. Niemand kann wissen, was das ist, was Johnny verfolgt, aber dass er etwas verfolgt, ist offensichtlich.“