Autor*in | Kathrin Passig, Sascha Lobo | |
Titel | Internet – Segen oder Fluch | |
Verlag | Rowohlt | |
Erscheinungsjahr | 2012 | |
Bewertung |
Die größte Stärke von Internet – Segen oder Fluch ist eindeutig, wie unmissverständlich das Buch die Neuartigkeit des Netzes macht. Das Internet hat unser aller Leben verändert, in ganz vielen Bereichen – und es wird es weiter tun. Das betrifft auch das Schreiben von Büchern: Lobo und Passig haben an diesem Sachbuch gleichzeitig geschrieben, per Google Doc konnten sie simultan am Text arbeiten, und über Fußnoten machen sie den Entstehungsprozess und Diskussionen beim Verfassen an einigen Stellen erfreulich transparent. Zur Modernität des Werks zählt auch, dass man mit dem Kauf des Buches zugleich einen Download-Code für das E-Book erwirbt.
Noch ein Pluspunkt: Lobo und Passig erklären die technologischen Rahmenbedingungen, wo das notwendig ist, haben aber kein Buch für Informatiker geschrieben, sondern für Nutzer. Sie fragen nicht so sehr danach, wie das Netz funktioniert, sondern eher danach, wie die Menschen im Umgang mit dem Netz funktionieren. Das hat immer wieder den Hinweis zur Folge, wie neu alles ist und wie wenig wir noch über langfristige Folgen wissen. Manchmal treten auch spannende Gedanken zutage, beispielsweise der Verdacht, dass sich das Volk in Sachen digitaler Demokratie selbst nicht traut, oder die Erkenntnis: „Wenn wir so einzigartig wären, wie wir uns fühlen, könnten Empfehlungsalgorithmen nicht funktionieren, deren Vorschläge auf dem Verhalten anderer Menschen beruhen.“
Das Buch zeigt: Das Internet ist hoch komplex, widersprüchlich, flüchtig, unverbindlich, für viele Menschen bloß eine Bühne zur Selbstdarstellung. Leider gilt all dies auch für das Buch. Letztlich krankt Internet – Segen oder Fluch vor allem daran, dass die Autoren sich davor scheuen, Stellung zu beziehen. Der Buchtitel trägt kein Fragezeichen, doch natürlich erwartet man bei einem solchen Gegensatzpaar eine Antwort – genau die bleiben Passig und Lobo aber letztlich schuldig. Ärgerlich ist dieser fehlende Mut vor allem deshalb, weil im Prinzip offensichtlich ist, auf welcher Seite die Autoren stehen: Für Lobo und Passig ist das Internet ganz offensichtlich ein Segen, denn sie haben ihm ihr Betätigungsfeld zu verdanken, ihren Broterwerb und nicht zuletzt auch die Möglichkeit, ein Sachbuch wie dieses zu schreiben.
Sascha Lobo, der sich in diesem Buch ironisch selbst als „industrienaher Netzkolumnist“ und „Möchtegern-Provokateur“ bezeichnet und der mit seiner roten Irokesenfrisur für wenig web-affine Menschen wohl so etwas wie die Verkörperung „von diesem Internet“ ist, und Kathrin Passig, von der Zeit als „die intellektuellste Analytikerin des Medienwandels“ gelobt, geben immerhin einen Überblick über die verschiedenen Dimensionen des Problems und den Stand der Debatten von Datenschutz und Urheberrecht über Informationsüberflutung und Beschleunigung bis hin zur Frage, wie wir über das Netz diskutieren sollten und ob uns das Internet vielleicht alle doof macht.
Anhand von Studien gelingt eine brauchbare Materialsammlung. Auch die zahlreichen Verweise auf historische Parallelen („Die Recherchen zu diesem Buch haben eine zuvor nur vage vorhandene Ahnung bestätigt: Die Diskussion, die heute vom Internet handelt, ist weitgehend unverändert seit Jahrhunderten im Gang, wir sind Marionetten, die ein uraltes Stück aufführen“, heißt es auf einer der ersten Seiten) sind immer wieder erhellend. Aber mehr als ein Appell für mehr Transparenz oder die Ermahnung zu mehr Rücksicht auf die Perspektive der Gegenseite bleibt als Ergebnis kaum. Lobo und Passig entlarven zwar wiederholt sinnlose Argumente und zeigen oft genug, dass sie es besser wissen. Sie wissen aber, erwartungsgemäß, auch nicht alles und maßen sich Lösungsvorschläge oder gar eine umfassende Antwort in der Regel nicht an.
Das ist vielleicht einfach nur seriös, womöglich ist es sogar eine Entsprechung für das Wesen des Internets; schließlich ist das Netz liquid, und auch eine Betrachtung und Bewertung des Netzes muss somit flexibel bleiben. Wenn man diese Position vertritt, muss man allerdings gar nicht erst ein Buch mit solch einem ebenso anmaßenden wie nichtssagenden Titel schreiben. Internet – Segen UND Fluch wäre die passendere Wahl gewesen. Vielleicht auch: Internet – Segen oder Fluch! mit einem Ausrufezeichen. Am besten hätte allerdings Internet – Segen oder Fluch 😉 gepasst.
Denn lästig ist auf Dauer vor allem die Unernsthaftigkeit dieses Buches, die von den Autoren wohl als Unterhaltsamkeit gemeint ist. Sie berufen sich zwar auf Geistesgrößen wie Neil Postman, Max Planck, Charles Darwin, Wittgenstein, Leibniz, Petrarca, Einstein, Bismarck oder Euripides, zitieren aber ebenso gerne halbwitzige Tweets und sparen auch selbst nicht mit Kalauern. Die Idee, der Debatte ein bisschen Verbissenheit zu nehmen, mag begrüßenswert sein. Verbal abrüsten, argumentativ aufrüsten – diese Aufforderung an die Teilnehmer der öffentlichen Diskussion rund um Für und Wider des Netzes ist dem Buch immer wieder anzumerken. Doch die Form dafür ist misslungen und dem Thema nicht angemessen. Denn schließlich zeigt das Buch, wie bedeutend der digitale Wandel ist und wie tief er in unser Leben hineinwirkt. Liebesbeziehungen, Arbeitsplätze und politische Entscheidungen hängen längst von ihm ab – und Probleme dieser Dimension lassen sich nun einmal schwer mit Pennäler-Humor, ein bisschen Pop und im Zweifel auch mal einem „scheiß drauf“ diskutieren, erst recht nicht in einem Sachbuch.
Internet – Segen oder Fluch ist im Ergebnis zu platt und schwammig für Kenner des Netzes, aber gleichzeitig zu schwierig und fahrig für Ahnungslose.
Bestes Zitat: „Technisch gesehen ist es durch das Netz viel leichter geworden, sich mit anderen Positionen zu beschäftigen. Das macht es schwieriger zu rechtfertigen, warum wir es nicht tun.“
Eine leicht gekürzte Version dieser Rezension gibt es auch bei news.de.
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