Autor*in | Kjersti A. Skomsvold | |
Titel | 33 | |
Verlag | Hoffmann und Campe | |
Erscheinungsjahr | 2014 | |
Bewertung |
Mathematiklehrerin ist die Ich-Erzählerin in 33. Von ihrem Namen erfahren wir nur den Anfangsbuchstaben (K), von ihrem Äußeren nur die Tatsache, dass sie sehr blonde Haare und sehr kleine Brüste hat. Umso mehr Einblicke gibt es auf den rund 140 Seiten in ihr Innerstes. Und die Herangehensweise für 33 – den zweiten Roman der 1979 geborenen Kjersti A. Skomsvold, die für ihren Debütroman Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich vielfach ausgezeichnet wurde und von ihrem Verlag als die „wichtigste junge Stimme der norwegischen Literatur“ bezeichnet wird – kann man durchaus als mathematisch bezeichnen.
Zwei Männer gibt es in diesem Buch: Samuel, den K. in Irland bei einer Fachtagung kennengelernt hat. Und Ferdinand, mit dem sie bis zu dessen Tod in Frankreich gelebt hat. Ob es Selbstmord war, ein Sprung vom Balkon, lässt die Ich-Erzählerin ebenso im Unklaren wie die Frage, ob dieser Tod vielleicht nur ein metaphorischer ist. Denn Ferdinand bleibt in ihrem Leben präsent, als Gesprächspartner, Ratgeber und Nemesis. „Die Macht der Toten besteht darin, dass wir glauben, sie würden uns jederzeit sehen“, hat sie erkannt. Dann gibt es in der Wohnung von K. in Norwegen noch ein Tier, das „das Kind“ heißt – es könnte aber auch umgekehrt sein. „Wer kein Leben hat, muss sich eine Illusion schaffen“, heißt es an einer Stelle, und dieser Maxime scheint K. sich voll und ganz verschrieben zu haben.
Das zeigt schon: Kjersti A. Skomsvold hat eine hochgradig unzuverlässige Erzählerin erschaffen, so sehr, dass sie auf der vorletzten Seite des Buchs sicherheitshalber so etwas wie eine Gebrauchsanweisung für die Lesart dieses Romans gibt. 33 ist „eines jener seltenen Bücher, deren Inhalt bei jeder neuen Lektüre anders erscheint“, hat Verdens Gang ganz richtig erkannt. Dazu trägt in erster Linie der Charakter von K. bei. Sie schwankt zwischen einem von ihr selbst beinahe romantisierten Fatalismus und einer großen Begierde nach Liebe, Zukunft, Glück; dass sie an einer schweren Lungenkrankheit leidet und auf eine Transplantation wartet, ist höchstens ein Teil der Ursache dafür. Gleich auf der ersten Seite gibt es diesbezüglich einen Vorgeschmack: „Ich bleibe sitzen, wachgehalten von Verbitterung und Enttäuschung. Worüber? Das Leben. Bisher war es so, als ginge man ohne Eimer zu einem ausgetrockneten Brunnen, auch wenn das wohl eine unverschämte Lüge ist.“
Dazu trägt aber auch ein Stil (hervorragend übersetzt von Ursel Allenstein) bei, der zwischen großer Wehmut und überraschender Komik changiert und oft etwas Wahn- oder wenigstens Rauschhaftes hat. „Ich bin nur voller Wahnvorstellungen gewesen“, stellt K. nach einer besonders surrealistischen Passage selbst fest, „in meinem Irrglauben habe ich mir grundlos Zwangsgedanken im Unterleib zugezogen, mir Humbug über den Kopf gezogen wie eine Zwergenmütze, die sich immer fester um das Hirn schließt und es zu zermalmen droht. Ich habe mir die Ohren mit Unsinn vollgeheult, reiner Dusel, dass ich mich nicht selbst angezündet habe.“ Sie ist radikal in ihrer Selbstanalyse, sogar grausam in den Bildern, die sie dafür findet. Dem stehen aber auch Gedanken und Formulierungen machen, die beinahe atemlos machen vor Weisheit und einem die Tränen in die Augen schießen lassen können vor Schönheit.
Das Schreiben an sich ist ein zentrales Thema des Buchs. Woher nimmt man die Inspiration oder die Anmaßung, einen Roman zu verfassen? Wie lassen sich die Zerrissenheit, die vielleicht Voraussetzung für diese Inspiration ist, und die ausdauernde Konzentration, die Bedingung für das Schreiben ist, vereinen? Wie kann man auch nur die geringste Hoffnung haben, die große Welt da draußen und die noch größere Welt in uns mit etwas so Behelfsmäßigem wie Buchstaben ausdrücken zu können – und dafür auch noch ein Publikum zu finden? K. reflektiert ausgiebig über diese Fragen und schreckt doch oft vor endgültigen Antworten zurück. „Es bereitet mir Qualen, den Frühstückssaal hier mitten im Text zu verlassen, ich möchte ihn detaillierter schildern, aber ich kann nicht in einer fortgeschrittenen Erzählung dazu übergehen, Literatur zu schreiben, ich bin doch schon im vollen Gange!“, ist ein Beispiel dafür.
Der Reiz von 33 ist die Parallelität, die dabei deutlich wird und für die K. als Mathematikerin eine Formel zu finden scheint. Liebe führt zu Mutterschaft führt zu einem neuen Lebewesen, lautet die eine Seite dieser Gleichung. Irgendetwas führt zu Autorschaft führt zu einem neuen Werk, steht auf der anderen Seite. Nach diesem „Irgendetwas“ sucht Kjersti A. Skomsvold in 33, und es ist ein außergewöhnliches Vergnügen, sie dabei zu begleiten.
Bestes Zitat: „Ich möchte lieber mit dir zusammen unglücklich sein als mit einer anderen glücklich.“