Autor | Klaus Theweleit |
Titel | Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell |
Verlag | Kiepenheuer & Witsch |
Erscheinungsjahr | 2004 |
Bewertung |
Es ist als Kompliment gemeint, als Appetizer, aber man könnte es auch als Warnung verstehen. „Dieses Buch ist zugleich Untersuchung wie auch Ausdruck einer kulturellen Blüte“, schreibt Sportjournalist Christoph Biermann im Vorwort zu Tor zur Welt. „Nie zuvor wurde so viel und so weit changierend über Fußball geschrieben, nie zuvor war der Stand des fußballerischen Denkens so hoch“, fügt er an. Er leitet dabei unmittelbar zu der Frage über (im Fußball würde man wohl von einem „Steilpass“ sprechen): Braucht es noch ein Buch, dass sich aus der Perspektive des großen Denkers dem banalen Kick widmet? Auch noch von Klaus Theweleit, einem Literaturwissenschaftler, der zum Zeitpunkt des Erscheinens von Tor zur Welt als Professor für Kunst und Theorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe tätig war?
Die Antwort lautet eindeutig: ja. Theweleit schafft es hier sehr eindrucksvoll, das Philosophische im Fußball zu erkennen, die Wechselwirkung (den Doppelpass?) zwischen Fußball und Gesellschaft zu durchleuchten. Die Bandbreite ist enorm: Er geht auf die erstaunlichen Parallelen zwischen Ligatabellen und Musikcharts ein und schafft es auch, vom Spielstil der holländischen Nationalmannschaft zur Malerei von Vermeer und Mondrian überzuleiten. Gelegentlich schießt er dabei zwar übers Ziel hinaus, dann ist seine Argumentation unrund oder selektiv. Alles in allem ist Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell aber eine enorm kluge, inspirierende Betrachtung.
Wie unlängst auch Nils Havemann in seiner Geschichte der Bundesliga zeichnet Theweleit nach, wie sehr dieser Sport unser Land (auch all jene, die nichts davon wissen wollen) geprägt hat. Am spannendsten wird es, wenn der Autor der Frage nachspürt, warum dieser Zusammenhang mittlerweile so allgemein anerkannt ist und sogar zunehmend zur intellektuellen Analyse anregt. Theweleits Vermutung: Seit dem Ende der politischen Utopien gibt es nur noch wenige Felder, die sich als Spiegelbild der Gesellschaft nutzen lassen und zugleich eine ausreichend attraktive und wirkungsmächtige Projektionsfläche bieten. Der Fußball ist eines der wenigen davon, und er wird deshalb mit allerlei Theorien und Weltanschauungen befrachtet. „Wer mitbekommt, was sich im Fußball wann und wie verschiebt, ist über andere Gesellschaftsbereiche osmotisch informiert“, schließt der Autor daraus.
Das Beste an diesem Buch ist allerdings, dass Theweleit nicht nur ein kluger Denker und ausgewiesener Kenner der Materie ist, sondern auch ein Enthusiast. Sein Buch ist ein „aus tiefster Fanbrust angestimmtes Loblied auf die welterschließende Kraft des Fußballs“, hat Andreas Rosenfelder in der FAZ richtig bemerkt, und es ist diese Begeisterung für das runde Leder, das weitgreifende Theorien, überraschende Vergleiche und zudem den erstaunlichen Mix aus Taktiklehrgang (am Ende des Buchs analysiert Theweleit sehr eindrucksvoll entscheidende Szenen der WM 2002) und politischem Essay verstehen lässt.
Theweleit ist Straßenfußballer. Er kickte mit dem Gummiball auf selbstgebaute Tore, später auf dem Feld war er als Linksaußen UND Torwart im Einsatz (und ihm wird klar sein, dass da jeder schmunzeln wird, der die alte Fußballweisheit zu diesen Positionen kennt). In Tor zur Welt geht er ausführlich auf sein eigenes Spielen ein, er erzählt „seine Kindergeschichte als komplett am Magneten Fußball ausgerichtet“, wie es im Klappentext heißt.
Das wirkt gerade am Beginn des Buchs sehr subjektiv und liebevoll – und damit unrepräsentativ. Doch dann wird klar: So ist es für jeden Fan. Die Zeiten, Vereine und Spieler ändern sich zwar, doch die Mechanismen und Effekte einer solchen Sozialisation bleiben gleich. Gelegentlich hat auch dieses sehr persönliche Erzählen skurrile Auswüchse zur Folge, so glaubt Theweleit beispielsweise, dass sein fußballgeschädigtes Knie einen Teil seines Denkens übernommen und sogar mehrere wegweisende Entscheidungen in seinem Leben enorm beeinflusst hat. Aber dem stehen sehr weise, sogar poetische Erkenntnisse gegenüber wie diese: „Fußball von Anfang an bestand aus beidem: Körpern und Medien. Bällen auf Plätzen und Bällen in der Imagination, im Radiolautsprecher. Bei Spielen war man immer auch wer anders, ein anderer Spieler oder ein berühmter Verein. Spielen hieß: Weltanschluss. Die Schnittstelle zwischen ‚Ich’ und ‚Welt’: der Ball. Ein Hyper-Ball, in dem auch alle nur gehörten und gefühlten Bälle kreisten.“
Bestes Zitat: „Der Unterschied zwischen den Geschlechtern, vom Ball her gesehen, bestand zunächst darin, dass Mädchen Hände nahmen, wo die Jungs Füße benutzten. Zweitens darin, dass sie heile Bälle hatten und die Jungs nicht. Drittens darin, dass es meist gelang, ihnen mit einem faulen Versprechen ihren Ball abzuluchsen; vorzugsweise mit dem unhaltbaren, er würde ihnen bestimmt heil zurückgegeben. Mit einem geschenkten Bonbon obendrauf. Für den Verdacht, dass Frauen die netteren Menschen sind, gibt es eine Menge Gründe.“