Autor | Lena Gorelik | |
Titel | Null bis unendlich | |
Verlag | Rowohlt Berlin | |
Erscheinungsjahr | 2015 | |
Bewertung |
Ein umwerfendes erstes Kapitel läutet den neuen Roman von Lena Gorelik ein. Man möchte sofort zum Jünger in der Kirche dieser Autorin werden, die 1981 in Leningrad geboren wurde, seit 1992 in Deutschland lebt und für ihre bisherigen Werke mehrfach ausgezeichnet wurde. Man möchte hoch und heilig schwören, dieses Buch nicht aus der Hand zu legen, bis man es so schnell wie möglich zu Ende gelesen hat. Null bis unendlich bleibt auch nach diesem furiosen Auftakt faszinierend genug, um das Bedürfnis zu wecken, es dann gleich nochmal zu lesen. In jedem Fall wird es nachwirken, auch wenn man es schließlich zuklappen und einen Ehrenplatz im Regal dafür heraussuchen sollte.
Der wichtigste Faktor für die Kraft dieses Romans ist eine Figurenkonstellation, „in der die Liebe sich ständig selbst dementiert und widerruft und sabotiert und tragisch endet“, wie Sigrid Löffler es für Radio Bremen formuliert hat. Da ist Nils Liebe, ein hochbegabtes Einzelkind. „Das Gefühl, nicht alleine zu sein, kannte er nicht. Aber auch nicht die Sehnsucht, diesen Zustand zu ändern“, heißt es über ihn. Als er 14 ist, kommt Sanela in seine Klasse, die als Waise aus dem Kriegsgebiet in Jugoslawien nach Deutschland geflohen ist. Das Mädchen ist rebellisch und eigensinnig. „Sie beantwortete alle Fragen mit ‚Ja‘, seit ihre quantitativ nicht sehr umfangreiche, aber qualitativ fehlerfreie Studie ergeben hatte, dass Menschen mehr Nachfragen stellten, wenn man ihre Fragen mit ‚Nein‘ beantwortete“, ist eine Stelle, die das wunderbar andeutet.
Die beiden Außenseiter werden beste Freunde. Für Sanela ist Nils der einfühlsame Erklärer dieses Deutschlands, in das sie da geraten ist. Ihm selbst wird durch die Begegnung erst klar, was für ein einsamer Eigenbrötler er zuvor war. Es ist die Unbeholfenheit dieser Beziehung, die sie so rührend macht. „Von Momenten wie diesen hatte er in unzähligen Büchern gelesen“, schildert Gorelik an einer Stelle die Gefühlswelt von Nils, als sich beinahe so etwas wie Zärtlichkeit zwischen den beiden 14-Jährigen einstellt. „Sein Theoriewissen war enorm. Sein Schatz an passenden, humorvollen, romantischen, liebenden, berührenden, rührseligen, möglicherweise perfekten Antworten war unerschöpflich, da half das fotografische Gedächtnis. Er erwischte sich dabei, eigene Worte und Sätze finden zu wollen, und schüttelte darüber den Kopf.“ Auch Sanela ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich zwischen zwei Welten zu orientieren, um sich unbefangen einer Zweisamkeit widmen zu können. Bei ihr sind es nicht Literatur und Wissenschaft, die den Alltag überlagern, sondern ihre Traumata aus dem Kriegsgebiet. Nach außen erscheint sie – auch für Nils – stark und souverän, und doch ist ihr Selbstbild geprägt von Trauer, Sehnsucht, Scham und Verleugnung.
Als die beiden längst unzertrennlich und tief vertraut sind, brennen sie zusammen durch, um in Bosnien das Grab von Sanelas Vater zu finden. „Das Mädchen verstand Nils Liebe, wie Nils Liebe das Mädchen verstand, er glaubte, sie brauchten keine Worte, sie war die Erste in seinem Leben, die ihn verstand, und bereits jetzt blitzte in seinem überklugen Kopf, den er auf seine Jacke gebettet hatte, der Gedanke auf, vielleicht würde sie die Einzige bleiben“, fasst Lena Gorelik dieses Einverständnis wunderbar zusammen. Mit mehr Glück als Verstand überleben sie dieses Abenteuer, werden auf dem Rückweg nach Deutschland aber getrennt. Nils landet wieder in der Schule, Sanela in psychiatrischer Obhut. Danach haben sie mehr als 15 Jahre lang keinen Kontakt – bis Sanela einen Brief an Nils schreibt.
Es ist der Kontrast zwischen der beinahe symbiotischen Beziehung der beiden Teenager und der totalen Funkstille und der Sehnsucht in der Zeit danach, aus der Null bis unendlich seine Spannung bezieht. Enorm geschickt ist auch die Wahl der Lebensabschnitte, in denen sich die erzählte Zeit abspielt: Die Begegnung von Nils und Sanela fällt ebenso wie ihr Wiedersehen in eine Zeit der Weichenstellung. Als Teenager müssen sie herausfinden: Was will ich für ein Erwachsener werden? 15 Jahre später gilt es zu klären: Wie will ich mein Leben als Erwachsener gestalten?
Diese Situation führt zur ersten große Frage, die über diesem Roman schwebt: Kann man jenseits der 30 eine Liebe fortsetzen, die unterbrochen wurde, als man 14 war und somit auch zu jung, um überhaupt zu bemerken, dass es Liebe sein könnte, vielleicht sogar eine Liebe fürs Leben? Die zweite große Frage ist schneller beantwortet: Wird es diesmal ein Happy End für die beiden geben? Wie gering die Hoffnung darauf ist, deutet sich schon auf den ersten Seiten an, später wird klar: Sanela hat den Kontakt zu Nils wieder aufgenommen, weil sie an einem unheilbaren Hirntumor leidet und da noch ein paar Dinge sind, die sie für sich und ihren Sohn regeln möchte.
Immer wieder ist Lena Gorelik ganz nah dran an ihren Figuren, taucht tief in ihr Innenleben ein, um dann plötzlich auf Distanz zu gehen, um aus einer Totalen auf das Geschehen zu blicken und manchmal Befremden zu schildern, ganz oft aber den Anschein von Normalität. Sie zeigt mit dieser Methode nicht nur, wie brüchig die scheinbaren Grundfesten unseres Lebens sind und wie viel Entscheidungskraft zu einer Liebe gehört. Sie unterstreicht auch, dass dieses Ganz-nah-Sein und Ganz-tief-Eintauchen (also: ein auktoriales Wissen) eben nur dem Erzähler gelingen kann, nicht dem Menschen, auch nicht dem Liebenden.
Bestes Zitat: „Gerade wenn du so bist, wie ich dich nicht liebe, liebe ich dich dennoch. Das Trotz macht Liebe zu Liebe.“