Autor | Lionel Shriver |
Titel | Großer Bruder |
Verlag | Piper |
Erscheinungsjahr | 2013 |
Bewertung |
Der neue Roman von Lionel Shriver erzählt die Geschichte eines Schocks: Pandora, die Ich-Erzählerin in Großer Bruder, lebt mit ihrem Mann Fletcher und dessen beiden Kindern im beschaulichen Iowa. Sie hat mit der Herstellung von Scherzartikel-Puppen ein kleines Vermögen verdient. Überraschend kündigt ihr Bruder Edison einen Besuch an, der als Jazzmusiker in New York lebt und den sie vier Jahre lang nicht gesehen hat. Als Pandora ihn vom Flughafen abholt, erkennt sie ihren Bruder nicht wieder: Er hat in der Zwischenzeit 100 Kilo zugenommen.
Aus dem einst athletischen und attraktiven Pianisten ist ein Mann geworden, dem andere Menschen mit Mitleid oder Ekel begegnen. Neben seiner Figur hat auch sein Selbstbewusstsein gelitten. Edison ist pleite, einsam und ohne Hoffnung auf eine Besserung seiner Lage. „Ich bin hundertfünfundsiebzig Kilo Scheiße“, lautet seine Selbsteinschätzung.
Pandora nimmt ihren großen Bruder bei sich auf, und der Gast wird bald zu einer Belastung, nicht nur für die Sitzmöbel. Edison wäre auch dann eine Nervensäge, wenn er schlank wäre. Doch seine Essgewohnheiten werden von seinen Gastgebern geradezu als Provokation empfunden: Pandora und ihre Familie haben ihr Leben durchreguliert und achten penibel darauf, niemals über die Strenge zu schlagen. Edison will nur noch faulenzen, genießen und essen. Vor allem Edisons Fitness-vernarrter Schwager Fletcher ist mächtig genervt von diesem lasterhaften Lebensstil. Er wirft seiner Frau die Verfehlungen ihres Bruders vor, und droht sogar mit Scheidung, wenn sie Edison nicht rauswirft.
Diese Ausgangssituation mag überraschen, sie passt aber durchaus gut zum bisherigen Werk von Lionel Shriver (Wir müssen über Kevin reden). Wiederholt hat die Autorin sich an gesellschaftliche Tabus gewagt. Das hat sie auch diesmal im Sinn: „Essen ist zu etwas Verbotenem geworden. Es gilt heutzutage als gewagter, ein großes Stück Schokoladentorte zu essen als zu dritt Sex zu haben“, hat sie in einem Interview mit dem Deutschlandfunk gesagt. Auch diesmal stehen zudem das Wesen und die Grenzen von familiärem Zusammenhalt im Zentrum ihres Werks. Noch einleuchtender wird die Wahl dieses Themas, wenn man weiß, dass Großer Bruder einen starken autobiografischen Bezug hat: Vor viereinhalb Jahren starb Lionel Shrivers Bruder an den Folgen seiner krankhaften Fettleibigkeit.
Die Frage, wie weit man für seine nächsten Angehörigen gehen sollte, prägt ihren neuen Roman. Pandora muss sich entscheiden, ob sie ihren Bruder verleugnen oder ihre Ehe aufs Spiel setzen will. Zusätzlich stellt das vollständig verwandelte Äußere ihres Bruders auch ihre emotionale Bindung zu ihm auf die Probe. „Edison war alles, was ich an Familie besaß, der einzige Blutsverwandte, den ich eindeutig und vorbehaltlos liebte. In diese eine Beziehung floss all die Loyalität, die andere auf einen ganzen Klan verteilen“, erinnert sich Pandora an ihre Jugend. Jetzt muss sie sich fragen: Kann unter dieser riesigen Schicht aus Fett noch dieselbe Person stecken, der einmal all ihre Liebe gehörte?
Ihre Antwort lautet Ja. Pandora zieht zuhause aus und mietet sich mit ihrem Bruder in einem Apartment ein, um ihn dort einer radikalen Diät zu unterziehen, die sie streng überwacht. Beiden ist klar: Es wird eine Tortur, und es wird lange dauern. Die gemeinsame Zeit nutzt Pandora, um über die Geschichte ihrer Familie, vor allem aber die Bedeutung der Ernährung in unserer Gesellschaft zu reflektieren. „Keine Mahlzeit, ganz gleich, wie gut sie zubereitet war, konnte die Antwort auf die Frage geben, was ich mit meinem Leben – diesseits und jenseits des Essens – anfangen wollte“, lautet eine ihrer Einsichten aus dieser Zeit, einer der wichtigsten Sätze in diesem Buch.
Lionel Shrivers Gedanken zum Gesundheits- und Fitnessterror sind das Beste an diesem Roman. Manchmal wirkt die Handlung etwas konstruiert (Pandoras Ehe mit Fletcher hat etwas Steriles; dass die Ich-Erzählerin früher einen Cateringservice betrieben hat, ist ein wenig eleganter Zufall; dass sie und Edison die Kinder eines TV-Stars sind, der in einer Serie über dysfunktionale Familien berühmt wurde, ist ebenfalls ein bisschen zu viel des Guten), doch mit einer erstaunlichen Pointe verwandelt Lionel Shriver diesen Vorwurf am Ende in ein Kompliment – die vermeintlichen Schwächen im Plot erscheinen durch die Überraschung am Schluss des Romans nicht mehr hölzern, sondern gewitzt.
Das gilt auch für die zahlreichen Passagen, in denen die Autorin die Ergebnisse ihrer ausführlichen Recherchen oder philosophischen Gedanken zum Thema unterbringt. Pandora muss sich bei der Begegnung mit Edison zwischen Wegschauen und Konfrontation entscheiden, sie muss ergründen, ob hinter dessen Fressorgien bloß Langeweile steckt, Kompensation oder gar eine Sucht. Schnell kommt sie zur zentralen Frage von Großer Bruder: Wie, wann und warum ist die Figur ein Gradmesser für gesellschaftliche Akzeptanz, Intelligenz, Disziplin geworden? Und warum kann sie selbst nicht aus dieser oberflächlichen Betrachtungsweise ausbrechen?
Fettsein wirkt in diesem Roman und in unserer Welt gefährlich, ansteckend: Es steht für Dummheit, Phlegma, Unterschicht. Extremes Übergewicht ist ein Urteil, nicht nur über die Attraktivität eines Menschen, sondern über seinen Charakter und Wert. Wir verlangen Leistung und Disziplin von unseren Mitmenschen, deshalb verhält sich das Körpergewicht oft umgekehrt proportional zur Würde, die wir ihnen zugestehen.
Lionel Shriver arbeitet diese Probleme mit großer Schärfe und brillanter Sprache heraus. Besonders clever: Auch Pandora meint, ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen zu haben, sie kämpft selbst mit ihrem Körpergefühl. Dass ihr Ehemann sie attraktiv findet, kann sie kaum glauben: „Auch wenn mir mein Körper verhasst war, gab es da immer noch Fletcher Feuerbach, der das Lieben dieses Körpers für mich übernahm. (…) Der vielleicht größte Gefallen, den der Geliebte einem tun kann, ist, zu übersehen, was man selbst nicht übersehen kann“, erkennt sie.
Höchst geschickt und sehr sensibel entlarvt die Autorin die fragwürdige Ideologie hinter Schlankheitswahn und Ernährungskult: Der Körper ist nicht mehr Hülle, Gefäß und Medium für das Menschsein, sondern wird zum eigentlichen Mittelpunkt. Nahrung ist nicht mehr nur Treibstoff für das Leben, sondern wird sein eigentlicher Inhalt. Beide Mechanismen wirken, weil wir nichts anderes finden, das uns Orientierung oder Erfüllung bieten könnte. Genau wie ihr Bruder tappt auch Pandora in eine doppelte Falle: Sie frisst aus Frust, und sie lässt sich einreden, nur als schlanker Mensch könne sie ein vorbildlicher Mensch sein.
Bestes Zitat: „Meine Theorie: Es liegt an der flüchtigen Substanz der Nahrung. Sie ist mehr Konzept als Substanz, sie ist die Idee von Befriedigung und damit wesentlich eindrücklicher als die Befriedigung selbst. Die nachhaltigste Erfahrung bei der Nahrungsaufnahme ist das Dazwischen: Man erinnert sich an den letzten Bissen und freut sich auf den nächsten. Das eigentliche Essen scheint hingegen gar nicht stattzufinden. Diese Unfähigkeit zur Erlösung macht Tafelfreuden so verlockend und zugleich so gefährlich.“