Marcel Proust – „Eine Liebe Swanns“

Autor Marcel Proust

Eine Liebe Swanns Marcel Proust Kritik Rezension
Alle Facetten der Liebe analysiert Marcel Proust in „Eine Liebe Swanns“.
Titel Eine Liebe Swanns
Verlag Süddeutsche Bibliothek
Erscheinungsjahr 1913
Bewertung

Charles Swann ist ein Lebemann mit reichlich Geld, erlesenen Manieren und einigem Witz, was ihn zum gern gesehenen Gast in den elegantesten Gesellschaften von Paris macht. Als er im Salon der Familie Verdurin einer jungen Frau vorgestellt wird, verliebt er sich in sie. Odette de Crécy hat zwar einen zweifelhaften Ruf, wird aber zum Mittelpunkt all seinen Denkens und Handelns. Swann umgarnt sie, gewinnt sie für sich, leidet an brennender Eifersucht, als ihr Interesse nach einiger Zeit mehr seinem Geld als seiner Gesellschaft dient, und gibt sie schließlich auf.

Das ist die Handlung von Eine Liebe Swanns, das man als Binnenroman innerhalb des ersten Bands von Marcel Prousts Monumentalwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auffassen kann, an dem er fast 20 Jahre arbeitete. Auch hier bewegen wir uns in der mondänen Welt der Salons zum Fin de siècle. Niemand hat so etwas wie einen Beruf, vielmehr sind die schönen Künste insbesondere für Swann, der als ambitionierter Amateur an kunstgeschichtlichen Aufsätzen schreibt, der einzige Lebensinhalt. Als Dandy „gehörte er zu jener Kategorie von intelligenten Männern, die für ihr müßiges Dasein einen Trost und vielleicht auch eine Entschuldigung in der Idee suchten, dass dieser Müßiggang ihrem Geist Objekte bietet, die des Interesses mindestens ebenso würdig sind wie die, die Kunst und Wissenschaft ihnen an die Hand geben würden, und dass das ‚Leben‘ interessantere und romantischere Situationen mit sich bringt als alle Romane“, wird er von Proust charakterisiert. Bezeichnenderweise entbrennt seine Liebe zu Odette erst in voller Stärke, als er ihre Ähnlichkeit mit einer Figur in einem Fresko von Botticelli in der Sixtinischen Kapelle entdeckt.

Nichts darf Mühe machen in dieser Welt, nicht einmal das so geflissentliche Streben nach Ästhetik. „Swann jedenfalls versuchte nicht, die Frauen, mit denen er seine Zeit verbrachte, hübsch zu finden, sondern bemühte sich, seine Zeit mit solchen zu verbringen, die er auf den ersten Blick hübsch gefunden hatte“, lautet ein entsprechendes Bonmot zu Beginn des Romans. Natürlich steckt im Porträt dieses Milieus ein gutes Stück Nostalgie angesichts einer untergehenden Epoche, andererseits übt der Autor in Eine Liebe Swanns erkennbare Kritik an der überheblichen Weltfremdheit und egoistischen Verlogenheit seiner Protagonisten, für die nichts zählt als Status, Klatsch und kulturbeflissene Angeberei. „Doch wie die Reden, das Lächeln, die Küsse Odettes ihm, wenn sie anderen galten, ebenso verhasst wurden, wie sie ihm früher beglückend erschienen waren, so zeigte sich ihm der Salon der Verdurins, der ihm bislang amüsant vorgekommen war, von wahrem Kunstverständnis getragen und einem hohen geistigen Niveau bestimmt, nun, da Odette dort einen anderen als ihn treffen und unbehindert mit ihrer Liebe bedenken würde, in seiner Lächerlichkeit, seiner Dummheit, seiner Niederträchtigkeit“, ist eine Passage, die das deutlich macht.

Der Roman setzt, anders als die übrigen Teile von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, auf einen auktorialen Erzähler, der als Verwandter eines entfernten Bekannten Swanns eingeführt wird. Viele andere Elemente zeigen deutliche Parallelen, etwa die Bedeutung der Kunst, die Macht des Unterbewusstseins oder die Arbeit mit Leitmotiven. Das hervorstechendste stilistische Merkmal ist die Detailversessenheit und Feinfühligkeit, mit der Proust (dessen literarische Sensibilität vielleicht auch durch seine eigenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen verstärkt worden sein mag) erzählt, die aus heutiger Sicht zwar langatmig wirkt, aber weitaus wichtiger ist als der eigentliche Plot.

Als „die subtilste, die genaueste Beschreibung und Analyse der Liebe, welche wir aus der neueren Literatur kennen“, hat der Schriftsteller und Literaturkritiker Rudolf Hartung Eine Liebe Swanns charakterisiert. Der Roman sei „so genau und erschöpfend, daß man sich mit Recht gefragt hat, ob der Literatur nach Proust in dieser Hinsicht überhaupt noch etwas zu tun übrigbleibt.“ Man kann diese Frage nachvollziehen, denn in der Tat zeigt das Werk – und zwar durch ein vollständiges Eintauchen in die intimsten Gedanken und subtilsten Gefühlsregungen des Titelhelden – praktisch alle Facetten der Liebe, von Schwärmerei über Leidenschaft, Begehren, berauschendes Glück und Eifersucht bis hin zur Ermüdung und Verleugnung. Immer wieder deutet der Roman dabei an, wie groß die Nähe zu Wahn und Einbildung ist beim Versuch eines Verliebten, Zeichen zu erkennen und zu deuten, die für niemand sonst sichtbar sind, für niemand sonst eine Bedeutung haben oder womöglich auch gar nicht existieren.

Gleich an mehreren Stellen vergleicht Proust die Liebe mit einer Krankheit, etwa mit einem Tumor oder der Cholera. „So fing er gemäß dem Chemismus seiner Krankheit, nachdem er mit seiner Liebe Eifersucht hergestellt hatte, von neuem an, Zärtlichkeit und Mitleid für Odette zu produzieren“, heißt es an einer treffenden Stelle über Swann. Auch im folgenden Zitat taucht diese Metapher auf: „Einst träumte man davon, das Herz einer Frau zu besitzen, in die man verliebt war; später kann das Gefühl, das Herz einer Frau zu besitzen, schon genügen, uns in sie verliebt zu machen. In dem Alter also, wo man annehmen müsste, dass, da man ja in der Liebe vor allem ein subjektives Vergnügen sucht, das Wohlgefallen an der Schönheit einer Frau den weitaus größten Anteil daran haben müsste, kann die Liebe – auch die ganz körperliche Liebe – entstehen, ohne dass ihr ursprünglich sinnliches Verlangen zugrunde gelegen hätte. In dieser Epoche des Lebens ist man von der Liebe schon mehrmals angerührt worden; sie rollt nicht mehr aus sich selbst nach ihren eigenen unbekannten und schicksalsbedingten Gesetzen in unserem staunend und passiv davon betroffenen Herzen ab. Wir helfen nach, wir nehmen durch Erinnerung und Suggestion Fälschungen daran vor. Wenn wir eines ihrer Symptome wiedererkennen, erinnern wir uns an die anderen und erwecken sie selbst zum Leben in uns.“

Die Passage verweist auf die entscheidende Besonderheit dieses Romans: So stark die Liebe hier ist, so ungewöhnlich ist sie doch im Kanon der großen Liebesromane. Es ist eine Liebe Swanns, nicht die große Liebe. Sie wird abstrahiert, seziert, analysiert, und zwar nicht erst, als sie ein unglückliches Ende gefunden hat, sondern von Anfang an. Mehr noch: Die Liebe ist hier nicht schicksalhaft, keine unwiderstehliche Macht, die über uns kommt, sondern etwas aktiv Gemachtes, von Swann selbst hergestellt. Sie ist ein „eingebildetes Vergnügen“, wie es an einer Stelle heißt, nachgerade selbst erfunden, ein Wunsch, den Swann selbst erschaffen hat und dem er sich willentlich und bedingungslos hingibt.

Dem üblichen Gedanken des „Es gibt nur diese Eine für mich, diese oder keine kann mich glücklich machen“ stellt Proust die Erkenntnis gegenüber, dass zur Liebe auch eine Entscheidung gehört, vor allem aber jede Menge Projektion. Es ist zwar nicht beliebig, auf wen wir projizieren, aber in jedem Fall gibt es reichlich Personen, die dafür geeignet sind – und jedenfalls entsteht die Liebe nicht durch so etwas schnödes wie Schicksal, Zufall oder Hormone, so lautet das Ergebnis. Eine Liebe Swanns ist damit auch eine Entsprechung des Lebens von Marcel Proust: Er definiert hier die Liebe als Triumph des Geistes über den Körper.

Bestes Zitat: „Von allen Arten der Erzeugung von Liebe, von allen Wirkkräften zur Verbreitung der heiligen Krankheit, ist sicher dieser gewaltige Erregungssturm, der uns manchmal erfasst, eine der zuverlässigsten. Dann fällt das Los unweigerlich auf die Person, mit der wir im Augenblick gerade gern zusammen sind; sie ist es, die wir lieben werden. Es ist dabei gar nicht nötig, dass sie uns bis dahin mehr oder auch nur ebensosehr wie andere gefiel. Es musste nur dazu kommen, dass unsere Neigung für sie plötzlich ausschließlich wurde.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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