Autor | Marcel Reif | |
Titel | Aus spitzem Winkel | |
Verlag | Kiepenheuer & Witsch | |
Erscheinungsjahr | 2004 | |
Bewertung |
„Fußballreporter aus Leidenschaft“ steht, ziemlich klein gedruckt, auf dem Cover dieses Buchs. Es ist ein auf den ersten Blick erstaunlicher Untertitel für diese Autobiographie. Schließlich gilt Marcel Reif unter den Fußballreportern nicht gerade als Gefühlsvulkan, sondern als analytischer Kritiker. In einer Branche, in der es noch immer Kommentatoren gibt, deren Expertise sich gerne auf ein „Ui, das war knapp!“ beschränkt (Ja, Thomas Herrmann, du bist gemeint!), gilt so jemand schnell als intellektueller Außenseiter – erst recht, wenn er auch noch so sehr auf sprachliche Feinheiten achtet, dass er von der taz als „sportfanatischer Germanist“ bezeichnet wird.
Dass Marcel Reif sich in dieser Rolle gefällt, zeigt schon der Titel des Buches. Er möchte nicht da sein, wo alle sind, und er hat erkannt, dass ein besonderer Standpunkt mitunter die besten Einblicke ermöglicht. Weil er kein Teil der Herde ist und im Zweifel lieber die etwas kompliziertere Lösung sucht, wurde er manchmal als Nestbeschmutzer betrachtet, oft als eitel gerügt. Doch auch damit kommt er klar. „Journalismus hat fast immer mit Eitelkeit zu tun, und im Fernsehen gilt das in Potenz. Wer diesen Umstand negiert, macht sich etwas vor“, schreibt er, erkennt aber auch an: „Fußball live im Fernsehen zu reportieren (…) ist ein besonderer Egotrip.“ Seine Autobiographie zeigt: Reif genießt die Macht der Kommentatorenposition, auch wenn er das vielleicht nicht zugibt.
Das Buch, entstanden in Zusammenarbeit mit Sportjournalist Christoph Biermann, verkneift sich unnötig Privates. Wo Kinder, Frauen oder Finanzen vorkommen, geht es meist um Fakten, die ohnehin schon bekannt oder – besonders häufig – bereits genüsslich bis verzerrt von der Klatschpresse berichtet sind. Aus spitzem Winkel ist nicht so sehr ein Buch über Marcel Reif, sondern ein Buch über Fußball und Fernsehen, in dieser Reihenfolge. Spannend ist das nicht nur, weil der Autor genug Horizont hat, um in beiden Welten (und oft auch jenseits davon) spannende Entwicklungen zu entdecken. Sondern auch, weil Reif zum Begleiter einer Epoche des Wandels im Fußball wurde, mit dem Großwerden des Privatfernsehens, dem Bosman-Urteil, Pay-TV, der Etablierung der Champions League, explodierenden Spielergehältern und rasant steigenden Preisen für Fernseh-Übertragungsrechte. Mehr noch: Reif ist nicht nur ein Beobachter, sondern manchmal – beispielsweise mit seinem schlagzeilenträchtigen Wechsel vom ZDF zu RTL – auch ein Protagonist dieses Wandels.
Das Buch beginnt mit dem ersten Fußballspiel, das Reif als Fünfjähriger mit seinem Vater in Warschau besucht hat, ein Jahr bevor die Familie über Israel nach Deutschland auswanderte. Er berichtet von seinen Gehversuchen als Schlagzeuger in einer Band, den sehr ordentlichen Leistungen in der Nachwuchsmannschaft des 1. FC Kaiserslautern und dem Quereinstieg in den Sportjournalismus: Reif hatte ein Studium der Publizistik abgebrochen und dann als „richtiger“ Journalist fürs Fernsehen gearbeitet, der Dokumentationen, Nachrichten und Auslandsreportagen machte, unter anderem für das heute journal, bevor er die Rolle als Fußballfan mit der des Sportberichterstatters tauschte.
Sprache spielt früh eine wichtige Rolle für ihn, wie er schreibt: „Vielleicht verfüge ich über ein Talent in diesen Dingen, wie es andere für Zahlen oder naturwissenschaftliche Zusammenhänge haben. Die Energie, unbedingt mitsprechen zu wollen, stammt jedoch aus der Zeit, bis wir in Kaiserslautern wirklich angekommen waren. Damals habe ich gelernt, dass ich erst dann meinen Platz finden und mich zu Hause fühlen kann, wenn ich so zu sprechen in der Lage bin wie alle anderen. Von daher ist es für mich nicht verwunderlich, dass ich bis heute größte Aufmerksamkeit für Sprache habe und mit Sprechen mein Geld verdiene. Es ist mein Überlebensmittel.“
Das Ringen um möglichst treffende Formulierungen für das, was auf dem Platz geschieht, ist freilich nicht akademisch motiviert. Vielmehr zeigt Aus spitzem Winkel, wie sehr Marcel Reif den Fußball liebt. Deshalb möchte er dieses Spiel nicht sprachlich vergewaltigt wissen, deshalb beansprucht er eine ästhetische Entsprechung von Kommentar und Kommentiertem. Er ist oft scharfsinnig und spitzzüngig, auch in diesem Buch. Aber wenn es um die (potenzielle) Schönheit des Spiels geht, wird er zum Romantiker, Schwärmer und Poeten. „Als Real Madrid im Frühjahr 2003 jedoch Manchester United in großem Stil demontierte, habe ich nach der ersten Halbzeit in Bernabeu gedacht, ich hätte das Licht gesehen“, schreibt er beispielsweise an einer Stelle. „Weil Real nicht nur perfekt, sondern auch berauschend schön spielte. In diesem Moment löste sich für mich alles ein, was ich von einem Fußballspiel nur erhoffen kann. Es war eher anrührend und emotional als analytisch oder professionell zu bearbeiten, und zugleich erlebte ich das Glück meines Jobs, wenn man auf einem Spiel einfach wegfliegen kann.“
In diesem Schwärmen ist, neben Geschäftssinn, Eitelkeit und dem Wunsch, ein paar Dinge gerade zu rücken, wohl auch die Motivation für Aus spitzem Winkel zu sehen: Marcel Reif möchte zeigen, dass er nicht der abgeklärte Kenner und der manchmal gelangweilte Nörgler vom Dienst ist, sondern ein enthusiastischer Liebhaber dieses Sports. Wenn man das glaubt, zeigt dieses vor mehr als zehn Jahren erschienene Buch auch: Nach all den großen Spielen, die er hier aufleben lässt, konnte nicht mehr viel kommen als stete Wiederholung. Dass Marcel Reif jüngst seinen Abschied zum Saisonende angekündigt hat, verwundert deshalb nicht.
Bestes Zitat: „Ich möchte auch nicht mit Zidane ein Abendessen verbringen oder mit Figo und Raúl um die Häuser ziehen. Ich möchte sie spielen sehen, basta. Oder nein, manchmal würde ich ihnen doch gerne sagen wollen, wie toll ich sie finde. Möchte mich bedanken für große Momente und große Gefühle. Das tue ich dann auf meine Art, mit dem Mikrophon auf dem Reporterplatz. Ich will nicht den schlichten Menschen hinter einer großen Leistung sehen. Ich habe Freude an großen, an schönen Dingen, ob in der Musik, bei der Schauspielerei oder im Sport. Ich will großartige Leistungen nicht entmystifizieren, mich interessiert nicht der Hervorbringer, sondern das Hervorgebrachte.“