Marguerite Yourcenar – „Der Fangschuss“

Autor Marguerite Yourcenar

Marguerite Yorcenar Der Fangschuss Kritik Rezension
In den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg spielt „Der Fangschuss“.
Titel Der Fangschuss
Originaltitel Le coup de grâce
Verlag Süddeutsche Bibliothek
Erscheinungsjahr 1939
Bewertung

Einen großen Teil seines Reizes bekommt Der Fangschuss, das vielleicht bekannteste Werk von Marguerite Yourcenar, durch sein Erscheinungsjahr. Als die 1903 in Brüssel geborene Schriftstellerin diesen Kurzroman veröffentlichte, stand der Zweite Weltkrieg nur noch wenige Wochen bevor. Ihr Thema passte perfekt in diese Zeit: Es geht um Kriegswirren, den Überlebenskampf der alten Eliten, das Vorrücken des Bolschewismus, die schwierige Definition von Nationalitäten und Landesgrenzen.

Der Schauplatz ist Kratovice, ein fiktiver Ort im Baltikum, unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs. Die Auswirkungen der Oktoberrevolution sind hier ebenso zu spüren wie ethnische Konflikte und die finanziellen Probleme des (oft aus der Ferne regierenden) Adels, der von den Einkünften des Lands lebt. Die Hauptfigur ist Erich von Lhomond, ein Offizier mit französischen, preußischen und baltischen Vorfahren. Viel exemplarischer hätte man die Gemengelage, die kurz nach Erscheinen von Der Fangschuss erneut zu einer globalen Katastrophe führte, nicht zusammenfassen können.

Erich von Lhomond erinnert sich in diesem Roman an die Ereignisse um das Jahr 1919 herum, aus einem nur vage datierten, aber sehr groß wirkenden Abstand zu den Ereignissen. Aus seinem Rückblick spricht das Wissen, viele Fehler gemacht zu haben, das aber keine Reue hervorruft, sondern vielmehr ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber einem nicht zu stoppenden Weltgeschehen, in dem ein einzelner Mensch wenig wert ist, heraufbeschwört.

Auf die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, die auch für ihn voller Entbehrung und Brutalität steckten, blickt er in einem fast sehnsuchtsvollen Ton zurück, als ahnte er, dass ihm und dem Rest der Welt noch Schlimmeres bevor steht. Auch dieser Ton zwischen Bedauern und Fatalismus wirkt aus heutiger Sicht beinahe prophetisch.

Auch unabhängig davon ist Der Fangschuss eine aufrüttelnde, eindringliche Lektüre, denn inmitten des Umsturzes der Welt außen blickt Marguerite Yourcenar auf die ewigen Wahrheiten des menschlichen Miteinanders, auf Themen wie Sehnsucht, Eitelkeit und Loyalität. Vor allem aber auf die Liebe.

Erich ist ein Mann ohne geografische und biografische Heimat, er besitzt die „Fähigkeit, an nichts zu hängen und alles zu genießen und zugleich zu verachten“, wie es zu Beginn des Buches heißt. Als er nach einigen Jahren der Abwesenheit nach Kratovice zurückkehrt, begegnet er Sophie wieder, der Schwester seines besten Freunds Konrad. Beide spüren die besondere Anziehungskraft zwischen sich, doch während Sophie ihre Gefühle befeuert, will Erich sich nicht darauf einlassen.

„Diese Frau war ein großes Land, das er erobert, aber nie betreten hatte“, stellt er fest, und seine Zurückhaltung erklärte er sich „irrtümlicherweise aus einer übertriebenen Gewissenhaftigkeit“, die er darauf zurückführt, „dass Sophie ausgerechnet die Schwester des einzigen Menschen war, an den ich mich durch eine Art Pakt gebunden fühlte“. An Sophies Zuneigung vermag dies nichts zu ändern. Yourcenar erzählt diese verhinderte Liebesgeschichte mit großer Tiefe, Ernsthaftigkeit und Menschenliebe.

Im Zentrum ihres Romans steht der Widerstreit zwischen dem Wesen der Figuren (wie sie sind) und ihrem Selbstbild (wie sie meinen, sein zu müssen). Es ist diese Diskrepanz, die dem Glück von Erich und Sophie im Wege steht. Die Grausamkeit besteht zum einen darin, dass beide diese Diskrepanz nicht erkennen können, zum anderen darin, dass er sich ihrer Gefühle sicher sein kann und genau weiß, woran er ist, während sie im Ungewissen bleibt in ihrer „Liebe, die ständig andere Formen annimmt wie eine nervöse Erkrankung jeden Tag neue Symptome zeigt“.

Was sie eint, ist ihre Überzeugung, für den anderen das Richtige zu tun, und ihre Entschlossenheit, nichts an ihrer Entscheidung zu ändern, sei es eine aufopferungsvolle Hingabe oder eine großherzig gemeinte Verweigerung. „Trotzdem fesselten Zorn, Widerwillen, Mitleid, Ironie, ein vages Bedauern auf meiner Seite uns in all ihrer Widersprüchlichkeit wie zwei Liebende oder zwei Tänzer aneinander. Jenes ersehnte Band bestand wirklich zwischen uns“, gesteht Erich sich ein.

Seine Sturheit, gepaart mit einem falsch verstandenen Ideal von Adel, und ihre Leidenschaft, gepaart mit einer klassenkämpferischen Einstellung, führen dazu, dass ihre Beziehung ein im höchsten Maße katastrophales Ende findet. Extrem tragisch wirkt das auch, weil sich recht früh für beide abzeichnet, dass sie die falsche Entscheidung getroffen haben – und weil sie unzählige Situationen durchleben, in denen sie die Chance hätten, das zu korrigieren.

„Heute finde ich, dass das Unglück die Dinge doch damals gar nicht schlecht geregelt hat. Es bleibt deshalb doch wahr, dass ich vermutlich eine einmalige Chance versäumt habe. Es gibt aber auch Chancen, gegen die unser Instinkt sich trotz aller besseren Einsicht sträubt“, versucht Erich an einer Stelle, dieses Versagen vor sich selbst zu rechtfertigen, und formuliert damit zudem, was im Kern dieses Romans steckt.

Die Mechanismen von Zweifel, Abbitte, Rechtfertigung und Selbsttäuschung sind ein wichtiges Element in den Ausführungen von Marguerite Yourcenar, die eine große psychologische Schärfe beweisen. Dass sie wiederholt thematisiert, wie falsch die eigene Erinnerung sein kann oder wie wenig es möglich ist, mit Worten wirklich Wahrheiten auszudrücken, und Erich damit als unzuverlässigen Erzähler inszeniert, ist die Entsprechung davon.

Es ist diese Fähigkeit, das Innenleben der Figuren virtuos mit dem weltpolitischen Geschen zu verknüpfen und dafür eine wundervolle künstlerische Form zu finden, die diesen Roman auszeichnet. Der Fangschuss macht, was große Literatur immer tun sollte: Sie lässt uns aus dem Persönlichen etwas über das Allgemeine lernen.

Bestes Zitat: „Grausamkeit ist ein Luxus für Müßiggänger, wie Rauschgifte und seidene Hemden.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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