Autor | Marie Calloway | |
Titel | Es hat echt überhaupt nichts mit dir zu tun | |
Otiginaltitel | What Purpose Did I Serve In Your Life | |
Verlag | Ullstein | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
In der ersten Szene dieses Buchs schildert die Ich-Erzählerin ihre Entjungferung als 18-Jährige. In der letzten Szene ist sie 22 und berichtet von einem Dreier mit zwei Kerlen in einem New Yorker Hotelzimmer. In der Zeit dazwischen kommt sie auf 75 Männer, mit denen sie geschlafen hat, wie sie in einem Sex-Chat angibt, aus dem sie hier zitiert. Ganz schön rasante Entwicklung? Ja. Ganz schön freizügig? Ja. Ganz schön eindimensional? Ja.
Mit den Eckpunkten von Es hat echt überhaupt nichts mit dir zu tun ist schon viel von dem benannt, was dieses Buch so faszinierend, aber auch so problematisch macht. Nach der Lektüre dieser 287 Seiten wundert es kein bisschen, dass Marie Calloway (das ist das Pseudonym einer 1990 geborenen Amerikanerin, die in diesem Buch etliche Texte zusammenführt, die sie zuvor in Online-Literaturmagazinen veröffentlicht hat) in den USA damit eine Kontroverse ausgelöst hat: Das Buch ist exhibitionistisch, unmoralisch, wagemutig und hemmungslos.
Vor allem liegt das natürlich an den expliziten Sexszenen und an dem Blickwinkel, aus dem Marie Calloway die Sexualität betrachtet. Sex hat bei ihr fast immer mit Gewalt zu tun, wird zum Krieg um Dominanz und Unterwerfung. Sie erzählt von Schlägen, Fesseln, Erniedrigung und der Einnahme diverser Körperflüssigkeiten in diverse Körperöffnungen. Selbst dann, wenn eine derart offensichtliche Brutalität fehlt, wird Sex hier immer ein Machtkampf, in dem der Mann rücksichtslos ist und die Erzählerin versucht, damit umzugehen. Nach Spaß, Intimität oder Erfüllung klingt nichts davon – für keinen der Beteiligten.
„Ich wusste nicht, wie ich mich beim Sex verhalten sollte, und diese Lücken waren von Pornos gefüllt worden, die mir beigebracht hatten, dabei die ganze Zeit total geil und verzweifelt zu wirken“, schreibt Marie Calloway an einer Stelle, und diese Reaktion, basierend auf einer gestörten Sozialisation, ist bezeichnend – nicht nur für ihr Liebesleben, sondern für ihren Blick auf die Welt. „Männer haben völlige Kontrolle über mich“, heißt es an anderer Stelle. Doch die Erzählerin ist nur bedingt darauf aus, gegen diesen Zustand aufzubegehren. Vielmehr versucht sie, sich damit zu arrangieren, die Unterdrückung so umzuinterpretieren, dass sie sie vielleicht akzeptieren oder gar genießen kann.
Damit ist Es hat echt überhaupt nichts mit dir zu tun wieder so ein Buch, bei dem man sich wünscht, alle Frauenzeitschriften der Welt würden sofort und auf ewig verboten. Der Terror von Konsum, Figur und Folgsamkeit, dem Frauen ausgesetzt sind, hat auch hier ganze Arbeit geleistet. Das Buch ist geprägt von Komplexen und Neurosen als Ergebnisse einer Kultur, die jungen Frauen die Möglichkeit vorenthält, einfach ein Mensch, eine Person zu sein. Und sie stattdessen glauben lässt, sie müssten 24 Stunden am Tag ein perfekt gestyltes Sexobjekt sein, zudem eine zuvorkommende Dienerin, die niemals auf die Idee kommen sollte, irgendjemanden mit irgendetwas Unangenehmen zu behelligen.
„Ich bin es so leid, dass Männer so tun, als würde sie etwas anderes in mir sehen als eine Nutte, dass sie irgendeine Frau als etwas anderes sehen als eine Nutte“, bringt Marie Calloway diesen Irrglauben an einer Stelle auf den Punkt. Unsicherheit kann natürlich kein Lebenselixier sein, aber auch hier begegnen wir – ähnlich wie zuletzt bei Lena Dunham oder Sheila Heti – einer Erzählerin, für die das Gefühl, es der Welt niemals recht machen zu können, zum Lebensgefühl geworden ist, auch zum Treibstoff für ihre Kreativität.
Das ist nicht immer leicht zu ertragen, weil der Grat zwischen Ohnmacht und Selbstmitleid auch in diesem Buch ein schmaler ist. In jedem Fall aber ist Es hat echt überhaupt nichts mit dir zu tun schlauer und lesenwerter als die Ergüsse von Lena Dunham, weil Marie Calloway sich wirklich über Rollenbilder und Feminismus Gedanken macht und dabei auch zu Ergebnissen kommt – und sich nicht bloß in Vorwürfen und Orientierungslosigkeit suhlt. Es geht ihr um Selbstvergewisserung, mindestens ebenso sehr wie um Selbstdarstellung.
Gute Literatur ist das dennoch nicht unbedingt – unabhängig davon, ob man auf Seite derer steht, die in Es hat echt überhaupt nichts mit dir zu tun bloß das frivole Tagebuch einer Spätpubertierenden sehen (wie etliche Leser von Marie Calloways Blog, deren Kommentare hier teilweise zitiert werden), eine weitere Protagonistin der Asperger-Literatur erkennen, wie Stephen Marche in Esquire diese Gattung getauft hat, oder ob man der Autorin glaubt, wenn sie immer wieder betont, es sei naiv sein, vom ihrem literarischen Ich auf ihre reale Person zu schließen.
Freilich liegt diese Gleichsetzung stets nahe, erst recht bei einer Autorin, die ihre Texte online verbreitet und über soziale Netzwerke agiert, in denen man in der Regel kein abstrakter Schöpfer eines Werks ist, sondern ein klar umrissenes, stets erreichbares und mit anderen Personen vernetztes Profil repräsentiert. Gerade diese Methode führt zum zweiten prägenden Aspekt von Es hat echt überhaupt nichts mit dir zu tun, der letztlich viel spannender ist als die Bettgeschichten: Die Erzählerin liefert hier die totale Dokumentation ihres Lebens. Und alles in diesem Leben wird zu Material.
„So etwas habe ich noch nie gelesen. Es ist schmerzhaft, schockierend und überwältigend gut geschrieben, zusammengestellt mit einem feinen Gespür dafür, was gezeigt werden und was verborgen bleiben muss“, lobt Sheila Heti im Klappentext dieses Buch. Doch diese Hoheit über einen entscheidenden Rest von Privat- und Intimsphäre gibt es nur für die Erzählerin, nicht für die Menschen in ihrer Umgebung. Ausführlich und offensichtlich ungefragt zitiert sie aus Gesprächen, E-Mails, iChats und User-Kommentaren. Das Buch thematisiert damit auch den Kontext einer neuen Öffentlichkeit und neuer Veröffentlichungsformen, neuer Autorschafts- und Publikumsmodelle, einer neuen Interpretation von Privatsphäre und Urheberrecht.
Als Lehrbeispiel für die Wirkungsweise des Online-Lebens taugt Es hat echt überhaupt nichts mit dir zu tun viel besser denn als erotische Lektüre. Die Personen in diesem Buch sind für Marie Calloway durchweg Konstrukte, nicht zu trennen von der Selbstinszenierung, die sie im Netz betreiben und den Reaktionen (zwischen Shitstorm und Hype), die sie online auslösen. Alles das prägt, wen sie kennenlernen will und wie das persönliche Kennenlernen dann abläuft – für Freier, denen sie ihren Körper anbietet, gilt das ebenso wie für literarische Vorbilder, die sie gerne mit ihren Werken beeindrucken möchte.
Die Verbindung aus Online und Offline findet auch formal eine spannende Entsprechung in diesem Buch. Es gibt Screenshots von Facebook-Chats und Userkommentaren in ihren Blogs, reichlich Experimente mit Typographie (manchmal sind Sätze wie „hör auf mir zu erklären, wie dumm ich bin, das weiß ich selbst“ mitten über eine bereits beschriebene Seite gedruckt): All das sind ziemlich gewagte Formen und ziemlich faszinierende Möglichkeiten im altmodischen Medium Buch.
Es gibt auch Fotos aus den Web-Profilen von Marie Calloway, mit gespreizten Beinen, um einen Lover geil zu machen, oder blaugeschlagenen Brüsten, nachdem ein Sexpartner sie verprügelt hat. Diese Bilder zeigen vielleicht am besten, was das größte Problem dieses Buchs ist: Demütigung bleibt auch dann Demütigung, wenn man sich nicht dagegen wehrt, sich einredet, die Demütigung genießen zu müssen, im Internet darüber schreibt und aus diesen Texten ein Buch macht, mit dem man Geld verdient. Es scheint nicht so, als habe die Autorin das schon erkannt.
Bestes Zitat: „Würde ich je meinen Wunsch, als Schriftstellerin ernst genommen zu werden, mit meinem Bedürfnis vereinbaren können, geliebt zu werden?“